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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Beim Impfen voraus: Das Herzogtum Nassau und Brasilien

Epedemie, Nassau, Impfen, Impfgegner, Corona, Rudolf Steiner6 min read

Vor Weihnachten 2021 berichten die Medien, dass Brasilien, vor Monaten noch arg gebeutelt von Corona, die schlimmsten Folgen der Epidemie überwunden hat und sich mit seinen Samba-Gruppen auf einen wenig beeinträchtigten Karneval vorbereitet. Die Menschen in diesem Land sind gewohnt, gegen Seuchen geimpft zu werden, und mit dieser Impftradition haben sie mit konsequentem Impfen auch Corona in den Griff bekommen. Zwar gab es zu Beginn der Seuche sehr viele Tote, und der Präsident Bolsonaro leugnete die Gefahr und weigerte sich, gegen das Virus vorzugehen. Aber dann gingen sehr viele Brasilianer nicht nur gegen Bolsonaro auf die Straße. Sie erzwangen und organisierten Impfkampagnen, und heute sind in den Riesenstädten Brasiliens mehr als 90 Prozent der Erwachsenen zweifach geimpft, und derzeit gibt es weniger Tote täglich als in Deutschland (TAZ 28.11.2021, 17./18.12.2021) In Brasilianer wundert man sich über Deutschland und fragt, wieso in einem so „modernen“ Land die Corona-Impfung so viele Probleme macht.

Das erinnert daran, dass in vielen Teilen der Welt seit vielen Jahren schlimme Krankheiten durch Impfen in Schach gehalten werden. Die Segnungen des Impfens gegen Krankheiten haben in unserer Gegend, dem ehemaligen Herzogtum Nassau, schon im 19. Jahrhundert die Kinder mitbekommen. In dem „Lesebuch für die oberen Klassen der Elementarschulen des Herzogtums Nassau Zweiter Teil Neue Ausgabe Wiesbaden 1841“ wird darüber berichtet. Es ist wohl nicht für die Hand der Kinder, sondern zum Vorlesen für den Lehrer gedacht, der seine „lieben Kinder“ anspricht. Im Kapitel über das Rindvieh erläutert er, dass man die Kinder gegen die Blattern oder Pocken geimpft hat. Die Pockenschutzimpfung hat viele Todesopfer verhindert, hat vielen die sprichwörtlichen Verunstaltungen des Gesichtes mit Blattern- oder Pockennarben erspart, und 1980 hat die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für ausgerottet erklärt. Das Lesebuch von 1841 erklärt: „Die Wahrnehmung, daß die blatternartige Krankheit der Kühe … beim Melken auf den menschlichen Körper übergehe, und daß dieser von nun an von den natürlichen Pocken befreit bleibe“, war das Motiv dafür, Menschen mit Kuhpocken zu impfen, und es „zeigte sich, daß dadurch nur eine leichte Unpäßlichkeit hervorgebracht und die Möglichkeit, von den natürlichen Pocken angesteckt zu werden, aufgehoben wurde.“ Das berichtet das Lesebuch von 1841. (S. 419)

So wurden in Nassau wie ganz Deutschland die Kinder, dann ein zweites Mal auch die Heranwachsenden gegen Pocken geimpft, ohne dass sich Jemand dagegen gewehrt hat: Das ist das beschreibbare Schicksal der erfolgreichen Bekämpfung einer Pandemie. Impfen gegen Pocken wurde Gewohnheit, und es wird gesagt, dass Die US-Nordstaaten im Krieg gegen die Südstaaten gewonnen haben, weil ihre Soldaten gegen Pocken geimpft waren, die der Südstaaten nicht.

Später wurde konsequent gegen Diphterie und andere Kinderkrankheiten geimpft, schließlich auch gegen Tetanus und (als Schluckimpfung) gegen Kinderlähmung. Dass viele Menschen in Deutschland, dem Land der Reiseweltmeister, bei Fernreisen meist beweisen müssen, dass sie gegen manche Tropenkrankheiten geimpft sind, wird als selbstverständlich hingenommen.

Das Herzogtum Nassau, eigentlich nur von 1806/1815 bis 1866 als staatliche Einheit existierend, war mit der Pocken-Schutzimpfung schon damals konsequenter als das heutige Deutschland mit der Corona-Impfung. Unter den reformfreudigen Ministern Marschall und Ibell war es im Gesundheitswesen ohnehin vorbildlich. Mit einem Edikt von 14.3.1818 wurde eine flächendeckende ärztliche Versorgung auch auf dem Lande zu geringen Kosten eingeführt. Sie wurde nach der Einverleibung des Kleinstaates durch Preußen im Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 abgeschafft, weil, wie die hohenzollernschen Könige in Preußen meinten, es sei „prinzipiell die Ausübung der Heilkunst nicht Zweig der Staatsverwaltung“, man brauche nur Gesundheitspolizei (etwa für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten). Erst durch den Druck der sozialistischen Arbeiterbewegung und aus Furcht vor ihr sah sich Bismarck gezwungen, im deutschen Kaiserreich die Renten-, Unfall- und Krankenversicherung als öffentliche Einrichtungen eines Staates einzurichten. Und später entwickelte dann der demokratische Staat sich zum Wohlfahrtsstaat. Und mit dem Bonner Grundgesetz entstand der demokratische Sozialstaat, für den das Gesundheitswesen mit Selbstverständlichkeit eine öffentliche Aufgabe ist.

Im einstigen Herzogtum Nassau und im heutigen Brasilien ist so die entsprechende „Impfkultur“ weiter als im heutige Deutschland: Hier gibt es heute „Impfgegner“, die zwar als Kinder zur Beruhigung der Eltern sich schadlos impfen lassen mussten, und sie empfinden es vermutlich als Wohltat, dass man sich für Fernreisen und im Beruf gegen alles Mögliche impfen lässt. Aber gegen Corona wollen sie nicht geimpft werden. Das mag jeder halten wie er will, solange nicht andere, gar die größere Gemeinschaft, dadurch gefährdet werden. Wenn jemand ungeimpft in Altersheimen dazu beitragt, dass Menschen sich infizieren und sterben, dann ist das ist keine Frage des Gewissens, sondern eine mindestens des Ordnungsrechte, je nach Rechtslage auch strafbar.

Den vielfach geprüften, aber, weil Menschenwerk, auch nie völlig fehlerfreien Regelungen vom TÜV im Verkehr und allen möglichen anderen Bereichen traut man. Wer ständig überall auf den endgültigen letzten Beweis der Sicherheit wartet, kann sich überhaupt nicht mehr bewegen. Und bei den geprüften Corona-Impfstoffen? „Wer der Regierung misstraut, misstraut der Medizin, die mit viel öffentlicher Förderung entwickelt wurde. Wer der Medizin misstraut, misstraut auch der Regierung, die sie propagiert.“ (Laberenz, Lennart: Der Stolz der Störer. TAZ 7.12.2021) Mit solchem Misstrauen schließt man sich mehr und mehr vom gemeinsamen Leben aus. Wem soll man dann noch vertrauen?

Ähnlich wie mit TÜV-Regelungen und Verkehrsregeln ist es mit Verkehrsbeschränkungen wegen der beweisbaren Corona-Ansteckungsgefahr: Man mag sie für übertrieben halten, aber an einer roten Ampel hält man als Autofahrer ja auch dann, wenn keine Autos zu sehen sind.

Die Mitglieder der einstigen Brunnengemeinschaften im rheinischen Boppard versprachen in ihren Satzungen Anfang des 19. Jahrhunderts, dass sie „sich einander wie Brüder lieben, und einer des andern kleine Fehler übertragen, nicht nachtragen will, keiner den andern verspotten, welches manchesmal den größten Streit erreget, sich einander mit Rath an die Hand gehen, sich einander in der Noth beistehen.“ (Nachbarschaftsbuch der Obermärkter Nachbarschaft in Boppard, um 1800.) Das setzt ein Grundvertrauen voraus, ohne das ein Leben miteinander kaum möglich ist.

Einzigartig und neu ist, dass es heute unter diesen Impfgegnern welche gibt, die ihre Mitbürger im Zusammenhang mit dem Impfen terrorisieren, bedrohen, gar umzubringen drohen. Damit wird der Konsens des gemeinschaftlichen Lebens völlig zerbrochen. Man kann nicht mehr miteinander reden. Die grundlegendste Form der Anerkennung der Anderen als gleichberechtigte Mitbürger ist verloren. Hass regiert, wie sonst nur in den schlimmsten Familienfehden. In unserer Region am oberen Mittelrhein gibt es so etwas glücklicherweise noch nicht.

Für solchen Hass muss man nach tieferen Ursachen fragen. Der schon genannte Autor Laberenz meint: „Die verschiedenen Impfgegner-Milieus eint ihre Egozentrik. Die können wir als Echo der neoliberalen Forderung nach Selbstverantwortung lesen.“ Häufig wird dieses Motiv genannt: Wenn man dem einzelnen Individuum im neoliberalen Freiheitsverständnis eine weitgehend unbeschränkte Freiheit zubilligt, dann bedeutet das die Abwendung von einem Ethos des Gemeinsinnes und des Gemeinnutzens. Gerade das aber kombinierte der nassauische Reformer Freiherr vom Stein mit der Freiheit des Individuums. Freiheit und Beachtung des Gemeinwohls schließen sich nicht aus. Das war auch das Grundprinzip des Sozialliberalismus der Bundesrepublik in den 1960er, 1970er Jahren. Es ist verloren gegangen und hat mehr und mehr dem rücksichtslosesten Eigennutz und Egoismus Platz gemacht.

Manche Ursachen gibt es dafür. Laberenz meint: „Das Elitenprojekt Sozialabbau, Beschneidung der Daseinsvorsorge, komplementiert mit militanter Forderung von Selbstverantwortung schallt nun aus dem Wald zurück als komplette Unfähigkeit, einen Gemeinschaftsbegriff zu denken.“ Und: „Sich nicht impfen zu lassen, spiegelt die Selbstbezogenheit, die eine neoliberale Wirtschaftsordnung in die Gesellschaft getragen hat.“

Es gibt Interpreten, die sehen solche Haltungen besonders bei den sich benachteiligt fühlenden Menschen im Osten Deutschlands verbreitet. Aber Laberenz meint: „Die Enttäuschung über die eigene Lebensentwicklung hat weniger Wurzeln im Realsozialismus: Die ostdeutsche Misere kann man als Ergebnis der 1990er Jahre lesen.“ (ebd.). In der Tat: Die „Treuhand“ hat unter der Leitung von Birgit Breuel dort „Hochgeschwindigkeitssanierung“ der Wirtschaft in der ehemaligen DDR praktiziert. (Böick, Markus: Die Treuhand. Ideen – Praxis – Erfahrung 1990-1994. Göttingen: Wallstein 2018, 390) Die Treuhand wird gelobt, weil sie eine Million Entlassungen ohne Volksaufstände realisiert hat. (ebd. 400)

Inzwischen wird auch noch die Romantik leichtsinnigerweise mitverantwortlich gemacht für die Impfverweigerung. „In den deutschsprachigen Ländern herrscht eine vergleichsweise große Impfskepsis. Das ist auf die Romantik zurückzuführen – aber auch auf Politikversagen.“(Christian Jakob: Eine deutsche Besonderheit. TAZ 18/19.2021)

Als Belege dafür werden Schriftsteller wie Samuel Hahnemann, der Verfechter der homöopathischen Heilkunde, ferner Schiller oder Novalis angeführt: Aber die Romantik konnte nicht anders, als auch an die Grenzen der Aufklärung zu erinnern. Autoren späterer Zeit, wie Nietzsche oder der Anthroposoph Rudolf Steiner, werden auch angeführt: Die wenigsten der Protestierenden und Impfgegner von heute werden jedoch diese Autoren kennen. Man weiß, dass die meisten Menschen ihrer Informationen nicht aus öffentlichen Medien und den allgemeinen Informationsquellen übernehmen, sondern gefiltert durch für sie vertrauenswürdige Personen. Nur von „Drehpunktpersonen“, „Gatekeepern“ übernehmen sie neue Ideen. Auf sie verlassen und an ihnen orientieren sich, weil sie in der von ihnen geprägten Gemeinschaft anerkannt sein wollen.

So kommt es weder auf die Herkunft aus dem Osten, noch auf die Orientierung an romantischem Denken oder anderen Autoritäten an, wenn man Impfgegner wird. Deshalb ist auch so schwer mit Faktenchecks gegenzuhalten: Die Glaubwürdigkeit der Vertrauenspersonen ist kaum zu erschüttern, denn sich an ihnen zu orientieren schafft auch Sicherheit im Alltag. Und mit diesem Hintergrund und mit dem Wunsch, die eigene Unzufriedenheit oder Unsicherheit in den Griff zu bekommen, geht man zur Demonstration und beschuldigt anderes oder andere für die Unzulänglichkeiten im eigenen Leben – gegebenenfalls auch die Ausländer, die Linken (früher die Juden) und sonstige eingebildete Schuldige. Und manchmal erscheinen Gewaltphantasien als einziger Ausweg – glücklicherweise noch selten, denn das ist der Weg in den Bürgerkrieg.

© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de 19.12.2021

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