— Willibald Alexis, Robert Schumann, Bingen, Fake, Wunder — 3 min read
Auf dem Rhein, dem verbindenden Band unserer Region Welterbe Mittelrhein und Bundesgartenschauregion 2029, passiert so allerhand.
Zu Zeiten vor der Eisenbahn und vor dem Auto wird das „Marktschiff“, mit dem Waren rheinabwärts gebracht werden, auch für Passagiere genutzt, und so manches Erlebnis ist damit verbunden.
Der Schriftsteller Willibald Alexis (1798-1871), Autor historischer Romane, reist mit dem Komponisten Robert Schumann (1810-1856), der zu dieser Zeit in Heidelberg studiert, im Mai 1829 von Frankfurt am Main Richtung Koblenz, und will dann weiter nach Trier und Paris.
Er notiert zum 16. Mai in sein Tagebuch (und ich gebe es in seiner Schreibweise wieder):
"Entzückung durch die klassischen Orte des Rheingaus per Droschke. Mondnacht am Rhein. Den 17. Von Bingen mit der Jagd den Rhein hinab….Gespräche in der Kajüte von curiosen abergläubischen Erinnerungen aus den rheinischen Räubergeschichten eheletzter Zeit: von dem Büchlein, das fest macht, |es hat| in den Händen von dem und dem gewiß existirt …; es sei auch gegen die Vernunft, und darum existire es auch selten. Einige Personen, welche die Erzählerin selbst gekannt, haben es aber, echt und wahrhaftig besessen. Wie hätte auch der ‚Bettelhannes‘ sonst, der alles vor offenen Augen wegstahl, nie gekriegt werden können! Wie der ‚Kesselhannes‘, den zwei Gensdarmen am Arm hielten und er sagte zu ihnen: Haltet mich ja fest, fest! – Und die Gensdarmen hielten ihn mit allen Kräften fest, auf dem ganzen Weg, und plötzlich wird’s ihnen so leicht zu Muth, und als sie zusahen, hielten sie noch seinen Rock, aber der Kesselhannes war längst über alle Berge. Und wie wäre der ‚Schinderhannes‘ so oft davon gekommen. ‚Hundsfott wehr dich‘ war ein versiegelter Zauberzettel. Drei Geschworne schwuren |fuhren?| im Marktschiff mit. Sie bestätigten, lächelnd oder zustimmend, was die ehemalige Marketenderin, Enkeltochter, Tochter und Ehefrau von drei oder vier Husaren (ausserdem Marketenderin) und, nebst vielem andern, alles Wahrem und Unglaublichen, erzählt hatten: von Kaiser Karl dem Großen, der mit 70,000 Mann bei Ingelheim in die Erde gesunken war – man sieht heute noch das Loch, wo sie einbrachen.
Carolus Magnus war der erste Rheinverderber, er ließ die Strudel bei Bingen wegbrechen, was den Verdienst der Fahrschiffer zuerst geschadet hat; Napoleon that es nach ihm. Den letzten Dunst <Dienst?> wird der Dunst und Dampf thun – die Dampfboote, die am Rhein ebenso allen ehrlichen Verdienst stören werden, wie sie die Lachse schon jetzt verscheuchten. Der Menschheit und honnetem Erwerb sieht es überhaupt am Rhein schlimm entgegen. Ein Gymnasiast, Sohn des Geschworenen, versucht mit bescheidener Kritik die Wahrscheinlichkeit dieser Märchen zu modificieren.
Es war ein toller Fastnachtsspuk von unheimlichen Geschichtchen, bei denen jede den andern zu schrauben und ernsthaft zu glauben blieb. Für mich war es das Element einer zu jener Zeit gelesenen Novelle: „Das Dampfschiff“, vulgo die Lügenwelt genannt.“ (Wasielewski, Josef W. v.: Robert Schumann. Eine Biographie. Dresden: Rudolf Kunze 1858, S. 318/319)
Willibald Alexis berichtet, sein Schriftstellerkollege Karl Immermann, den er 1833 in Düsseldorf traf, habe sich von solchen Geschichten anregen lassen, vermutlich auch zu seinem Roman über den Lügenbaron Münchhausen.
Mich interessieren jetzt nicht die Räubergeschichten:
Sie werden von den Menschen in unserer Gegend bis in die jüngste Zeit erzählt.
Dass die Menschen, die vom Rhein leben, sich darüber beschweren, dass der „Fortschritt“,
die Regulierung der Fahrrinne, ihnen Verdienstmöglichkeiten nimmt, ist verständlich,
und bei jeder „Modernisierung“ gibt es auch Modernisierungsverlierer.
Das sind nicht zuletzt alle, denen Fortschritt und Wachstum die Lebenswelt und die Lebensqualität zerstören. Eine Parabel dafür ist auch „Die schwarze Spinne“ von Jeremias Gotthelf. Aber warum reagiert der Gymnasiast nur mit „bescheidener Kritik“?
Scheut er den Streit mit den übrigen Anwesenden? Hat er wenig von jener Zivilcourage, die der Freiherr vom Stein erwartet, wenn er mit seinen Reformen davon ausgeht, dass seine Zeitgenossen sich immer auch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und deswegen puren Eigennutz nicht dulden?
Oder hat er gerade im Lateinunterricht gelernt „Odi profanum vulgus et arceo. Ich hasse das gemeine Volk und meide es.“
Und mit diesem arroganten Spruch im Hinterkopf will er sich von weniger gebildeten Mitreisenden distanzieren; deshalb bemüht sich gar nicht ernsthaft um die Zurückweisung von „Fake News“ oder „Verschwörungstheorien“.
Vielleicht aber meint er auch, so weit von dem Aberglauben der Marketenderin sei ja doch auch nicht weit entfernt, was er gerade bei seinen „aufgeklärten“ zeitgenössischen Schriftstellern wie E.T.A. Hoffmann an romantischen Horrorgeschichten gelesen hat?
Da kann man über seine Motive nur spekulieren.