— Revolution von 1848, Nassau als Vorreiter, Wiesbaden, Friedrich Wilhelm IV., Reichsverfassungskampagne — 3 min read
Warum wird die Erinnerung an 1848 entwertet, wenn man die Aktivitäten aus den Reihen der einfachen Leute lächerlich macht?
Selten wird erwähnt, dass Nassau in der 1848er Revolution zu den Vorreitern gehörte. Nach der Februarrevolution in Frankreich vom 22./23. Februar 1848 trafen sich schon am 1. März 1848, bald nachdem in Offenburg die Liberalen sich zu Wort meldeten, früher als anderswo liberale Aktivisten im Wiesbadener Hotel „Vier Jahreszeiten“ und formulierten Forderungen, die am 2. März unter Anwesenheit von 4000 Personen von der Treppe des Wiesbadener Theaters verkündet wurden. Am 4. März 1848 gab es in Wiesbaden auf dem Platz vor dem Schloss eine große Volksversammlung mit an die 30.000 Menschen, etwa einem Drittel aller männlichen Erwachsenen in Nassau. Der Großherzog wurde dabei gezwungen zu Zugeständnissen, die er später, gestützt auf die Mächte der Heiligen Allianz (des Deutschen Bundes) wieder zurücknahm. In Berlin und Wien kam es erst Tage, ja Wochen später zu entsprechenden Versammlungen, gefolgt von gewaltförmigen Auseinandersetzungen.
Die in Frankfurt ausgearbeitete Reichsverfassung vom 28. März 1849 hatte keine Chance: Durchdrungen von seiner eingebildeten Würde als Herrscher von Gottesgnaden hat Friedrich Wilhelm IV. von Preußen am 3. April 1849 die Krone eines Kaisers von Deutschland, die ihm von nach Berlin gereisten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung angeboten wurde, zurückgewiesen: Er werde sich „als Mann von edlem Geblüt“ nicht das „Hundehalsband“ der Revolution anlegen lassen. Er hätte „nur“ konstitutioneller, d.h.an eine Verfassung gebundener Kaiser sein können, während er „tief im Gottesgnadentum verwurzelter Monarch“ war (Hellfeld, Matthias von: 1848 in 48 Kapiteln. Geschichte einer Revolution. Freiburg i.Br.: Herder 2022; ZpB 2022, S. 144), der sich nur von Seinesgleichen eine Krone aufsetzen lassen wollte. Später sprach er von einem „imaginären Reif aus Dreck“, der ihm hätte aufs Haupt gesetzt werden sollte. (ebd. 145)
Die Kämpfer der Reichverfassungskampagne von 1849 hatten noch versucht, mit Gewalt und einem Volksaufstand die beschlossene Reichsverfassung durchzusetzen. (Hellfeld 109) Nach ihrer Niederlage gab es in Rastatt wohin sie sich zurückgezogen hatten, in der Bundesfestung der Heiligen Allianz 27 Todesurteile, von denen neunzehn vollstreckt wurden, ferner viele langjährige Haftstrafen.
Das aufstrebende neue Bürgertum will Geld verdienen und arrangiert sich nach 1848/49 mit dem preußischen Obrigkeitsstaat und dem Kaisertum, lässt sich dann auch in die nationalistischen Kämpfe um die deutsche Vorherrschaft in Europa hineintreiben.
Aber die Revolution ist nicht in Gänze gescheitert. Die „März-Errungenschaften“ und die Reichsverfassung wurden nie ganz vergessen. Die darin formulierten Freiheits- und Grundrechte blieben von da an, wenn auch immer wieder umkämpft, Bestandteil der Politik in Deutschland.
In meinem Artikel zum Hirschberger Freiheitsfeld erwähne ich einige Aktivitäten von Menschen, die nicht zu den hegemonialen Milieus gehören: Holzdiebstahl, Wilderei, illegaler Holzeinschlag, Vertreiben von Steuereinnehmern und Anderes sind Versuche, die nicht zuletzt durch die Herrschenden mit verursachte Not der einfachen Leute zu mildern. Alle haben ihre nachvollziehbaren Gründe, so auch die gern lächerlich gemachten symbolische Attacken auf Rheindampfer: Die neue Rheinschifffahrt und die Eisenbahn nehmen vielen in der Region die Chance, durch Arbeit sich und ihre Familien zu ernähren, und da müssen die Herrschenden Ersatz schaffen. In Wien wurde deswegen 1848 das „Recht auf Arbeit“ gefordert. Die hilflosen Proteste der einfachen Leute sind das Brennmaterial, mit dem das Feuer der jetzt (2023) wieder gefeierten Revolution entzündet und aufrechterhalten wurde.
Im Internet kursiert ein scheinbar amüsanter Artikel, der solche Aktivitäten (ohne Belege) auflistet und lächerlich zu machen versucht. Er wird dem Lokalforscher Wolfgang Schmidt zugeschrieben, einem Autor, von dem ich viel bessere Texte kenne. Mit einem solchen Text wird die 1848er Revolution entwertet.
Solchen Spott gab es schon bald nach 1848. Daran konnten nur Milieus Interesse haben, die ihren Frieden mit den undemokratischen Obrigkeitsstaaten gemacht hatten, und die nur Gewerbefreiheit und zügellose Markwirtschaft wollten, aber kein Interesse an einer Demokratie hatten, in der wie von dem Freiherrn vom Stein (und dem Bonner Grundgesetz) gefordert, Eigentum verpflichtet und dem Gemeinwohl dienen soll. Mit solchem Spott wollen diejenigen, die von den weiterbestehenden Obrigkeitsstaaten profitieren, die Deutungshoheit zur 1848er Revolution an sich nehmen. Aber sie sind die eigentlichen Verlierer, denn sie lassen sich mit ihren Interessen zu verbrecherischen nationalistischen Kriegen verführen, unter denen dann alle leiden. Die „Reichsverfassung“ von 1848 hätte andere Möglichkeiten eröffnet.
© Dieter Kramer 19.04.2023
Der Text bezieht sich teilweise auf das Kapitel 3 aus dem Buch Dieter Kramer: Gemeinsinn und Kreativität. Geschichten vom Mittelrhein und der Lahn. Lahnstein: Imprimatur Verl. Rudolf Kring 2022, ISBN 978-3-947874-10-1. Er ist aber nicht identisch damit.