Skip to content

R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Das Freiheitsfeld und die 1848er Revolution

Nassau, Gemeinde Hirschberg, Herzog Adolf von Nassau, Ernst Göbel, Adolf Reichwein, Willi Schmiedel3 min read

Es gibt eine Menge von Geschichten in der Region, die von Kreativität, politischem Selbstbewusstsein, bürgerschaftlicher Phantasie und Offenheit zeugen. Man sollte mehr an sie erinnern als an die politisch-ideologischen Verführungen durch autoritären Patriotismus oder rassistisch-völkischen Aberglauben: An letzteres zu erinnern, ist folgenlose Selbstbespiegelung, denn die Allermeisten Menschen wollen so etwas nicht noch einmal. Diejenigen, die von autoritären oder faschistischen Regimes immer noch schwärmen, muss man auf die Folgen aufmerksam machen, die es für sie selbst und ihre Mitmenschen hätte, wenn man sich von solchen Ideen leiten ließe.

An die anderen Geschichten zu erinnern motiviert für die Gegenwart. Eine sehr schöne Geschichte von Kreativität und Selbstbewusstsein von Bewohnern des alten Herzogtums Nassau erzählt Willi Schmiedel (Lindenallee2, 56379 Holzappel Tel 06439/7542, Mail willischmiedel(at)t-online.de) aus der Gemeinde Hirschberg nahe Eppenrod in der Esterau bei Holzappel). Dort gibt es die Flurbezeichnung Die Freiheit oder Freiheitsfeld. (Schmiedel, Willi: „Das Freiheitsfeld“ in der Gemarkung Hirschberg. In: Heimatjahrbuch 2016, 157-159)

Die Hirschberger, eingeengt durch Domänenwälder ihrer jeweiligen Landesherren und durch die ausgedehnte Gemarkung ihres Nachbardorfes Langenscheid, waren seit eh und je auf eine sehr kleine Feldflur angewiesen. 1848 „erreichte die Dorfbewohner die Kunde von einem großen Volksaufstand selbstbewusster und freiheitsliebender Bürger im Nassauer Land. Sie forderten vor dem Herzoglichen Schloss in Wiesbaden Mitbestimmung und eine demokratische Verfassung“ (S. 158) Da müsste eigentlich ein eigenes Kapitel dazu geschrieben werden: In den gängigen populären Darstellungen wird so getan, als sei das in Wiesbaden nur eine wenig bedeutende Emeute gewesen, aber es war immerhin eine demokratische Bewegung, wenn auch nicht sehr koordiniert mit dem, was anderswo in den deutschen Staaten geschah.

Herzog Adolf von Nassau „versprach, die Forderungen zu erfüllen“ – Presse- und Vereinigungsfreiheit, Einberufung einer Volksvertretung, Aufhebung der aristokratischen Standesvorrechte, und die Umwandlung der Domänen in allgemeines Staatseigentum. „Die Hirschberger Bauern verstanden die Nachrichten aus Wiesbaden als ein ‚Zeichen des Himmels‘: Beherzte Männer griffen entschlossen zu Axt und Säge und trieben kurzerhand den nördlich des Dorfes gelegenen, neun Hektar großen Domänen-Wald ab, um auf diesem Wege die Ackerfläche ihrer Gemeinde zu vergrößern.“ (158) (Wie wurde die Fläche verteilt? Darüber sollte einmal eine Schul-AG forschen). 1849 nahm der Herzog seine Zusagen wieder zurück, wie manche der anderen durch die Revolution in ihrer eingebildeten Würde als Herrscher von „Gottesgnaden“ gedemütigten Potentaten. Die „Rebellen“ sollten bestraft werden. „Aber der Ortsbürgermeister Hubert erreichte bei der herzoglichen Regierung, dass die Bauern straflos blieben und das gerodete Land in das Eigentum der Gemeinde überging.“ (158; auch dazu muss es Akten geben, die zu erschließen interessant wäre) „Bis zum Jahre 1922 erinnerte eine mächtige einsame Buche auf dem Freiheitsfeld“ an diese Begebenheit, und auf deren Stamm stand: ‚1848 begann die Freiheit – 1849 hörte sie auf, Herborn, Schäfer.‘“ (Wer war das? Warum verschwand sie? Fragen über Fragen)

Quelle ist für den Autor Schmiedel die Schulchronik von Hirschberg. Solche Chroniken, von den Lehrern vermutlich pflichtgemäß geführt, werden häufig als Quelle zitiert, sollten aber auch einmal systematisch ausgewertet werden. Oft erzählen sie von allgemeinen Ereignissen, auch von den patriotischen Sedansfesten (Beispiel Bornich). In der Miehlener Schulchronik überliefert der Lehrer aber auch Hinweise auf die heimarbeitenden Nagelschmiede des Dorfes.

Die Chronik in Hirschberg wird geführt von dem Reformpädagogen Ernst Göbel, der 1918 bis 1933 dort Lehrer war und einen vorbildlichen, betont erlebnisbetonten „heimatkundlichem Gesamtunterricht“ praktizierte, wie er damals von Reformpädagogen gepflegt wurde. Später tat dies auch Adolf Reichwein, in Bad Ems geboren, nachdem er von den Nationalsozialisten in die Provinz gezwungen wurde. (s. Kap. Xyx) Am 29. März 1933 wurde Ernst Göbel, „der überzeugte Sozialdemokrat und SPD-Abgeordnete im Kreistag Unterlahn … aus dem Unterricht heraus von der SA in Schutzhaft genommen und vom Dienst suspendiert“ und musste den Ort Hirschberg verlassen.

Vor dem Weggang singt er mit den Schülern in der Kirche, deren Orgel er spielt, „noch einmal das Deutschland-Lied“, wie er in seinem letzten Eintrag schreibt: Die Hymne der Weimarer Republik, nicht das Horst-Wessel-Lied der Nazis. Er überlebt, wird Schulrat des Kreises Erbach im Odenwald und organisiert auf dem alten Turnplatz „Am Forst“ in Holzappel in den 1950er-Jahren ein Zeltlager des Kreisjugendamtes Erbach. (S. 159)

© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de 28.12.2021

Logo

© 2023 by Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals.

All rights reserved.