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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Freiherr vom Stein und das Gemeinwohl

Freiherr vom Stein, Frücht, Preußische Städteordnung, Stein´sche Reformen, Siedlerdemokratien, Nassauer Denkschrift, Gemeinwohl, Enteignung, Green New Deal, Roosevelt3 min read

Man zweigt von der Straße Lahnstein-Bad Ems ab, wenn es nach der früheren Bergmannsiedlung Friedrichsegen geht, fährt durch dieses Dorf und dann den Berg hoch bis nach Frücht. Dort muss man sich den Weg zum Friedhof suchen. Dann geht man links seitwärts an Friedhof vorbei bis man vor ein verschlossenes Gittertor kommt. Von dort aus sieht man eine vernachlässigte neugotische Begräbniskapelle. Es ist das Familienerbbegräbnis der Freiherren vom Stein.
Sie war 1831 Ziel der feierlichen Fahrt der Kutsche mit dem Sarg des 1757 in Nassau geborenen Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein, begleitet von vielen Freunden und Familienangehörigen.

Heute ist die Kapelle nicht zugänglich, der Platz zeigt alle Zeichen von Verwahrlosung.

Dem Freiherrn vom Stein verdankt Deutschland die Preußische Städteordnung von 1808, die unter dem Stichwort „Stein´sche Reformen“ Grundlage für die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden bis in die Gegenwart ist.

Als Freiherr vom Stein zu Beginn des 19. Jahrhunderts die unter seinem Namen bekannt gewordenen Reformen anstößt, werden die Bürger in die Verwaltung ihrer Gemeinden einbezogen. Ohne Bevormundung durch Grundherren und andere Gewalten können sie, nur der Oberaufsicht des jeweiligen Staates Rechenschaft schuldig, über ihre Angelegenheiten selbst bestimmen. Zunächst sind es nur die besitzenden Bürger. Das gilt für die Demokratie-Formen seit der Antike und auch die nordamerikanischen „Siedlerdemokratien“ von 1776 (für sie sind die Indianer später meist nur zu vertreibende oder auszurottende Feinde).

Erst die Wahlrechtsreformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beziehen nach und nach alle Erwachsenen Bürgerinnen und Bürger ein. Das allgemeine Frauenwahlrecht gilt in Deutschland erst mit der Novemberrevolution von 1918 Stein wollte das Alte „zeitgemäß“ „umbilden“. (Fenske 93) Die besitzenden Bürger (an Bürgerinnen wurde damals noch nicht gedacht) sollten Selbstverantwortung wahrnehmen, aber dabei „gemeinnützige und nicht nur eigennützige Ziele“ verfolgen, wie Stein in der „Nassauer Denkschrift“ von 1807 formuliert. Damit folgt er dem Stein´schen Familienethos: Leben dem Gemeinnutzen widmen.

In der eigenen Familie wird das auch konsequent eingefordert: Es gab zu seiner Zeit in dieser Familie ein Mitglied, das sich in sehr egoistischem Verhalten von diesen Verpflichtungen lossagt hatte und Reichtum verprasste. Ihm wird verboten, den Namen der Familie weiterhin zu führen.

Gemeinnutzen und Gemeinwohl gehören zusammen. In der 21. (letzten) Auflage des Brockhaus (2006, Band 10 2006, 408-409) wird Gemeinwohl als „Schlüsselbegriff“ behandelt. Für Thomas von Aquin ist das Gemeinwohl die Rechtsschranke der Herrschertätigkeit (im Islam ist es ähnlich).
Mit dem Begriff werden zeitweise negative Wertungen verbunden, weil die Nationalsozialisten unter Gemeinwohl die Bündelung aller Kräfte für den Revanche- und Eroberungskrieg verstanden.

In den Verfassungen der Zeit nach 1945 kann dennoch nicht darauf verzichtet werden.
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lässt sich wieder unbefangener über „Gemeinwohl“ reden. Es hat gesellschaftpolitische Konsequenzen, wenn man die bei dem Freiherrn vom Stein verlangte „Gemeinwohlverpflichtung“ des Eigentums ernst nimmt.
Sie wird betont im Bonner Grundgesetz Artikel 14.2:

"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Die Demonstrationen für bezahlbares Wohnen und für das soziale Grundrecht auf Wohnung erinnern im Frühjahr 2019 daran, dass „Enteignung“ für das Gemeinwohl auch im Bürgerlichen Gesetzbuch als Möglichkeit vorgesehen ist. Sie ist nicht nur für Autobahnen, sondern auch wegen des Menschenrechts auf Wohnen denkbar.

Wenn Enteignung angesichts der möglicherweise entstehenden Kosten nicht zielführend scheint, dann kann man über das Instrument Beschlagnahme nachdenken:
Als nach dem 2.Weltkrieg in Deutschland Zweiten Weltkrieg für wohnungslose Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten ebenso wie für Großstädter, deren Wohnungen durch Bomben zerstört sind, Unterkünfte gebraucht werden, ist diese Beschlagnahme möglich. Und für das alliierte Militärpersonal, das Deutschland von Hitler und dem Nationalsozialismus befreit hat, werden Unterkünfte ebenfalls so gesichert. In beiden Fällen wird das Eigentum nicht enteignet, aber temporär einer dem Gemeinwohl verpflichteten Nutzung zugeführt.

Bevor er mit großer Mehrheit zum Präsidenten der USA gewählt wird und seinen „New Deal“ einleitet, hält Franklin D. Roosevelt am 31. Oktober 1936 im New Yorker Madison Square eine Rede gegen die „Großkonzerne und Finanzmonopole, Börsenspekulation, rücksichtslose Banken“. Er wirft ihnen vor:

„Sie hatten begonnen, die Regierung der Vereinigten Staaten als bloßes Anhängsel ihrer eigenen Angelegenheiten zu betrachten. Aber wir wissen inzwischen, dass eine Regierung des organisierten Geldes genauso gefährlich ist wie eine Regierung der organisierten Kriminalität.“

Heute reden viele von einem neuen „Green New Deal“ zur Überwindung der ökologischen, sozialen und klimatischen Krisen. Sie sollten sich daran erinnern, dass es auch heute Gegner gibt, die sich nur äußerlich ein grünes Mäntelchen umhängen, aber dennoch nur an die Steigerung des Wertes ihrer Aktien (den Shareholder value) und an Profit denken.
Dazu werden alle Lobbyisten eingesetzt, so auch die der Autoindustrie. Eher kleinere Unternehmen, die auf Nachhaltigkeit setzen und z. B. Produkte herstellen, die man auch reparieren kann, sind die Ausnahmen.
Gegen jeden New Deal, der ernsthaft Pfade einschlägt, die zu mehr Lebensqualität führen und weniger zerstörerisches Wachstum brauchen, wehren sie sich. Sie werden, wie man so sagt, den Teufel austreiben mit dem Beelzebub. Das stammt aus der Bibel: „Er treibt die bösen Geister nicht anders aus als durch Beelzebul, ihren Obersten.“ (Matthäus 12,24)

Der gemeine Nutzen, das Gemeinwohl muss sich beziehen auf die Förderung von Lebensweisen, die langfristig Lebensqualität und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sichern. Wachstum um jeden Preis hat nichts mit Gemeinwohl zu tun.

Soll man es symbolisch verstehen, dass im Dorf Frücht das Erbbegräbnis der Freiherrn vom Stein so verwahrlost ist?

© Dieter Kramer Donnerstag, 5. November 2020

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