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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Hunsrück ohne Juden? Etwas zu Juden in der Region

Martin Niemöller, Volkskunde, Pfarrer Paul Schneider, Grube Friedrichsegen, Treitschke, Hofprediger Stöcker, Hunrücker Juden, Konzentrationslager Buchenwald, Miehlen, Nastätten, Antisemitismus6 min read

Hunsrück ohne Juden? Etwas zu Juden in der Region

In der „Hunsrücker Volkskunde“ von G. Walter Diener und Willy Born, in letzter Auflage in Würzburg 1984 erschienen, findet man zu „Juden“ nur einige wenige, teilweise bösartige Judenspottverse. (S. 124) Über Zigeuner, die andere oft verfolgte, aber als wandernde Händler oder Handwerker ebenfalls selbstverständliche Minderheit, findet man gar nichts. Und das, obwohl Juden in all unseren Dörfern lebten und das kulturelle Leben zum Beispiel mit ihrer Musik, ihrem Handel und ihren Handwerken bereicherten. Sie waren akzeptierte und dazugehörende Mitglieder der Gemeinschaften.

Diese Nichtbeachtung der Juden ist peinlich für das Fach, in dem ich studiert und gelehrt habe. Die deutschsprachige Volkskunde hat lange Zeit wenig Interesse an den Juden gezeigt, auch wenn sie aus dem Alltags- und Festleben nicht wegzudenken waren.

In der österreichischen KuK-Monarchie, in der auch getaufte Juden in den „Adelsstand“ erhoben werden konnten (eine höchst fragwürdige Beförderung, denn sie mussten sich dann unter allerhand Antisemiten wiederfinden), gab es für die Volkskunde dieses Interesse wenigstens ansatzweise: Das österreichische Volksliedwerk hat vor 1914 ihre populären Lieder gesammelt, aber nach 1918 einen geplanten Band nie veröffentlicht.

In Hessen hat Alfred Höck, ein Marburger Volkskundler, 1979 einen Band der „Hessischen Blätter für Volks- und Kulturforschung“ zu Juden in Hessen herausgegeben. Er berichtet darin beispielhaft über Juden in Schwarzenborn und in Oberbrechen. Es gab sogar 1934 einen landwirtschaftlichen Kibbuz Hagschamah in Grüsen, einem Ort im Südostzipfel des Kreises Waldeck-Frankenberg.

Der Tübinger Volkskundler Utz Jeggle hat sich mit Judendörfern in Württemberg beschäftigt, Christoph Daxelmüller (Regensburg, Würzburg) geht 1987 besonders darauf ein, was die Ausklammerung der Juden aus dem kulturellen Leben bedeutet. (Die deutschsprachige Volkskunde und die Juden. Zeitschrift für Volkskunde 83/1987 S. 1-20)

Inzwischen weiss man auch viel über die Juden in unserer Gegend. Für die Bacharacher Juden sind „Stolpersteine“ aus Messing verlegt worden, und Dagmar Aversano-Schreiber hat darüber einen Beitrag für das Internetportal für regionale und lokale Geschichte des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. geschrieben. Und über den Judenfriedhof in der Nähe der Loreley gibt es auch Literatur.

Schon im Jahr 321 nach Christi sind im provinzialrömischen Köln Juden ansässig. In der karolingischen Gesetzgebung von Ludwig dem Frommen 814-840 erhalten die Juden Privilegien, die ihnen relative Sicherheit versprechen. In vielen Phasen der Geschichte sind sie selbstverständlicher Teil der Städte und ländlichen Gemeinden. Aber, weil sie eine deutlich von den Christen unterschiedene Gruppe waren, wurden sie immer wieder zu Sündenböcken. Weil angeblich auf ihr Geheiß Jesus von Nazareth, die Erlöserfigur der Christen, ans Kreuz genagelt wurde, begannen christliche Kreuzzüge nach Israel mit Judenhetze. Die Judenpogrome von 1096 sind Ergebnis fundamentalistischer christlicher Weltsicht und der Gier nach dem Geld der reichen jüdischen Kaufleute.

Dem Kaiser Friedrich II. wird 1235 ein Fall von Ritualmordverdacht vorgetragen: In Fulda sollen am jüdischen Opferfest die dortigen Juden einen oder mehrere Christenknaben ermordet haben. Im Zusammenhang mit der antijüdischen Polemik der gerade dort anwesenden Kreuzfahrer werden die Juden angeklagt. Einige von ihnen werden innerhalb von drei Tagen abgeurteilt und hingerichtet. Der Kaiser beruft zur Klärung des ihm vorgetragenen Fuldaer Falles zunächst ein Tribunal aus Vertretern der Aristokratie ein, das sich zu keinem Urteil imstande sieht. Daraufhin benennt er eine wissenschaftliche Kommission, die die Gesetzbücher der Juden prüfen soll. 1236 schließlich verkündet er sein Urteil: „Weder im Alten noch im Neuen Testament ist zu finden, daß die Juden nach Menschenblut begierig wären. Im Gegenteil, sie hüten sich vor der Befleckung durch jegliches Blut“, wie mit Bezug auf den Talmud festgestellt wird. „Es spricht auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit dafür, daß diejenigen, denen sogar das Blut erlaubter Tiere verboten ist, Durst nach Menschenblut haben können ... Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß die Juden – durch ein solches gefährliches Vorhaben – Gut und Leben aufs Spiel setzen sollten. Wir haben daher die Juden zu Fulda eines so schändlichen Verdachtes nach dem Spruch der Fürsten für unschuldig erklärt.“ (Keim, Anton Maria: Werner von Oberwesel und die Ritualmordlegende im 13. Jahrhundert. In: Lebendiges Rheinland-Pfalz Jg. 21/1984, H. 3, S. 82 – 86, S. 84)

So lässt die weit verbreitete Ritualmord-Beschuldigung erkennen, wie schlimm Vorurteile wirken und wie sie überwunden werden können. Geduldet sind Juden immer wieder gegen Schutzgeld. In die Zeit des 18. Jahrhunderts fallen auch Judenmission und „Bekehrungsversuche an jüdischen Delinquenten“ (Becker, Siegfried: Zwischen Konversion und Kriminalisierung. Zur Zwangsmobilität der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert. In: Grosch 2010 S. 71-90. 73). „Der Judenschutz, im Spätmittelalter noch kaiserliches Privileg (Judenregal), wurde in der frühen Neuzeit zunehmend territorialisiert, als landesherrliches Recht aufgefasst und in sogenannten Judenordnungen (mit der Funktion als Polizeiordnungen) geregelt. Das Schutzverhältnis blieb Gnadenakt des Landesherrn und erlegte den sogenannten ‚Schutzjuden‘ Verpflichtungen auf …“ (ebd.)

Erst 1824 erfolgt die privatrechtliche und schließlich 1853 die staatsbürgerliche Gleichstellung. Und dann erst beginnt der politische Antisemitismus, unter anderem befördert von dem Hofprediger Stöcker des wilhelminischen Kaiserhauses, von dem den Staat Preußen verherrlichenden Historiker Treitschke und von vielen weiteren Intellektuellen. Dies geschieht nicht zuletzt, weil viele von ihnen sich vor der Konkurrenz der emanzipierten lese- und diskussionsfreudigen Juden fürchten.

Dort, wo nicht gegen sie gehetzt wird, sind die Juden akzeptiert. Sie sind als Kreditgeber und Viehaufkäufer in Notzeiten nicht beliebt, wenn man Schulden bei ihnen hat, aber man braucht sie. Raiffeisen hat als Alternative seine Spar- und Darlehensbanken insbesondere für Bauern und dörfliche Handwerker gegründet. Der politische Antisemitismus lebte dennoch weiter.

Es soll Menschen geben, die heute wieder Sympathien hegen für das Hitlerreich oder für jenes Kaiserreich, in dem der gewaltbereite Antisemitismus grassierte. Die sollen sich bitte vor Augen halten, was unter den Nationalsozialisten geschah: Familien, seit Generationen hier in den Dörfern lebend, wurden aus ihren Häusern geholt, mussten sich mit nicht mehr als einem Koffer auf einem Sammelplatz einfinden.

Im August 1941 wurden 51 jüdische Personen aus dem Mittelrheingebiet in die rechtsrheinische ehemalige Arbeitersiedlung „Tagschacht“ der Grube Friedrichsegen, einen früheren Bergbauort bei Bad Ems, verbracht. Sie mussten dort zunächst Zwangsarbeit verrichten, und dann wurden sie über Frankfurt am Main in die Konzentrationslager Theresienstadt, Treblinka und Auschwitz verbracht. Die meisten überlebten wohl nicht.

Auf einer Wiese vor der Friedenskirche in Friedrichssegen wurde 2020 auf Anregung einer Gruppe von sieben Schülerinnen und Schülern der Realschule Lahnstein ein Mahnmal mit den 51 Namen dieser jüdischen Opfern errichtet. Übrigens: 2018 hat der AfD-Politiker Björn Höcke davon gesprochen, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen“. Da muss man ihn fragen: Was soll seiner Meinung nach mit diesen „Volksteilen“ geschehen? Denkt er dabei auch an solche Lager?

Im südlichen Hunsrück, auf der anderen Seite des Rheins, lebte in dem Dorf Dickenschied der Pfarrer Paul Schneider. Er weigerte sich, getauften Juden den Besuch seines Gottesdienstes zu verbieten – ein auch von der evangelischen Kirche weitgehend akzeptierter „Arierparagraph“ verpflichtete dazu. Martin Niemöller (s.Blog St. Goar und Niemöller) und viele andere weigerten sich, dem zu folgen. Paul Schneider wurde wegen dieses und ähnlicher „Vergehen“ in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht und dort 1939 ermordet. Von dem „Arierparagraphen“, den die Nationalsozialisten der Kirche aufzwingen wollten, spricht auch Luise Berthold, Herausgeberin des Hessen-Nassauischen Volkswörterbuches. Sie erwähnt 1979 in einer Ansprache an ehemalige Marburger Mitbürger in der Woche der Brüderlichkeit, dass die Evangelisch-theologische Fakultät in Marburg sich dem Arierparagraphen verweigerte mit den Worten, sie kenne nur Brüder, und es „hätten in der evangelischen Kirche judenstämmige Christen manchen gesegneten Dienst geleistet“. Nur mit Mühe gelang es, die Schließung der Fakultät zu vermeiden.

Am 9. November 1938 wurden, organisiert von nationalsozialistischen Organisationen, in ganz Deutschland jüdische Geschäfte geplündert und Synagogen angezündet. Nach dieser „Pogromnacht“ wurden 27 jüdische Personen aus dem rechtsrheinischen Miehlen (nahe Nastätten) vertrieben. Der Miehlener Pfarrer Hans von Lengerke gehörte zu dem Umkreis der Bekennenden Kirche. Als er noch im Januar 1945 zum Arbeitseinsatz einberufen wurde, half ihm der Nachbar „Becher Müller“ sich zu verstecken. In jedem Dorf gab es so etwas wie eine „NaziKäth“, aber immer gab es auch andere, für die Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit zur Selbstverständlichkeit gehörten.

All das gehört zur Erinnerung an die Juden. Die Brutalität und Menschenverachtung, die systematische industriemäßige Ermordung von Millionen von Juden – das soll man nicht vergessen, weil es zeigt, zu was Menschen in der Lage sind, wenn sie mit Parolen aufgehetzt werden gegen andere, die vermeintlich ihre privilegierte Sicherheit bedrohen. Und nach langer Vorbereitung werden Alltagsmenschen zu Tätern. Man findet die Anfänge dazu, wenn behauptet wird, es gebe Menschen, die nicht zu unserem „Volk“ gehörten, obwohl sie unter uns leben.

Juden gehören und gehörten in unseren Dörfern und Städten zu jener sozialkulturellen Vielfalt des Lebens, auf die keine Gesellschaft verzichten kann. Die Zerstörung von Vielfalt schadet allen. Auch daran muss man sich heute erinnern, wenn es um die Verfolgung und Ermordung der Juden Europas geht. Unsere Dörfer und Städte sind ohne sie ärmer geworden.

Papst Johannes XXIII, Vater des II. Vaticanum, hat den Passus über die „treulosen Juden“ (judaicam perfidian) aus der Karfreitagsliturgie gestrichen und bekennt: „Vergib uns den Fluch! Wir erkennen nun, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, so daß wir die Schönheit deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, daß das Kainszeichen auf unserer Stirn steht. Jahrhundertelang hat Abel darniedergelegen in Blut und Tränen, weil wir deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht aussprechen über den Namen der Juden. Vergib, daß wir dich in ihrem Fleisch zum zweiten Mal kreuzigten.“ (die Übersetzung auf der Tafel an der Wernerkapelle in Bacharach lautet etwas anders)

© Dieter Kramer Mittwoch, 17. Dezember 2020

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