— Freiherr vom Stein, Lebensqualität, Subsistenzwirtschaft, zukunftsfähige Wirtschaftsformen, Nachhaltigkeit, Gemeinwohlorientierung, Weinbruderschaft Breyer Hämmchen, bürgerschaftliches Engagement, Lahn — 4 min read
Kürzlich wollten wir endlich die Burg der Freiherrn vom Stein mit dem markanten Turm mit den vier „Wachhäuschen“
(den an jeder Seite angebauten kleinen spitztürmigen Ausbauten der Dachschräge, die für Wachtposten Platz schufen)
aus der Nähe sehen.
Der Turm ist ja erst 1977 rekonstruiert worden, und zwar nach dem spätmittelalterlichen Turm in der Stadtansicht des
Kupferstiches von Matthias Merian (1593-1650, gestorben in Langenschwalbach, dem heutigen Bad Schwalbach).
Natürlich war die Burg wegen Corona geschlossen, aber der klippenreiche Aufstieg von der westlichen Talseite durch den Eichenwald
(wenig geschädigt im Vergleich zu den Nadelwäldern in der Umgebung) ist auf jeden Fall lohnend.
Unweit von Nassau liegt eine der wenigen Lahnwein-Lagen, darunter auch die von Obernhof und Weinähr.
Nach einer Flurbereinigung legten vor wenigen Jahren in diesen Gemeinden Weinbergsbesitzer einen gemeinsamen „Bürgerweinberg“ an,
wie er ähnlich in Brey an der Mosel als „Weinbruderschaft Breyer Hämmchen“ schon existiert.
(www.obernhof.net; buergerweinberg@obernhof.net).
Das Ziel dieses Projektes, das gefördert wird vom Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum Westerwald Osteifel, ist es,
„traditionelle Rebsorten und historischen Rebschnitt zu vereinen“,
ferner die „Erhaltung des Weinbaus an der Lahn“ sowie Förderung des Naturschutzes und des Tourismus. (6. März 2019)
Damit kann ich mit diesem Text endlich auch einmal etwas zur Zukunft schreiben und nicht nur auf Geschichtliches aus der Region verweisen.
Es geht bei diesem Projekt (ich weiß nicht, wie gut es läuft) schließlich nicht nur um die Zukunft
des bei vielen Menschen beliebten Lahn-Weines, sondern auch um ein Projekt,
in dem zukunftsfähige Wirtschaftsformen erkennbar sind.
Es wurde, nicht mit dem Ziel des (grenzenlosen) Wachstums gegründet.
Alle reden davon, dass Wachstum nicht unendlich sein kann und mindestens qualitativ gebändigt werden muss,
noch besser aber reduziert werden sollte.
Aber keiner möchte auf irgendetwas verzichten, alle scheuen schon allein das Wort Verzicht.
Heute befürchten viele, dass es um Verzicht geht, wenn nach der Corona-Krise Neuorientierungen
in der Lebensweise nötig sind und es um eine sozialökologische Wirtschaft der Nachhaltigkeit
angesichts drohender ökologischer Krisen geht.
Sollte man nicht spätestens in diesem Zusammenhang auch von Lebensqualität reden?
Wenn ich im Sommer auf meinem Festbrennstoffherd kochen will und wegen der hohen Außentemperatur der Rauch meines Herdes
nicht durch den Schornstein entweicht, entzünde ich im Kamin ein „Lock-Feuer“:
Dann steigt heiße Luft im Kamin hoch und zieht die Luft und den Rauch von dem Feuer meines Herdes nach sich.
Wie könnte ein Lock-Feuer entstehen, das die Angst vor Verzicht mindert?
Mit dem Hinweis auf Lebensqualität lässt sich vielleicht eines entzünden:
Tempo 130 auf der Autobahn ist nicht in erster Linie interessant wegen der Energieersparnis,
sondern weil es ein Beitrag zu mehr Lebensqualität ist.
Wer einmal auf der Autobahn von Tel Aviv nach Jerusalem gefahren ist, kann das bestätigen.
Ähnlich ist es mit Lärmbegrenzungen und vielen anderen Maßnahmen.
Autofreie Innenstädte (oder Teile von Städten) sind eine Wohltat
(wer denkt denn schon noch daran, dass viele „Fußgängerzonen“ in Städten früher durch parkplatzsuchende Autos verstopft waren?).
In vielen anderen Fällen steigt die Lebensqualität durch Veränderungen, die dann überhaupt nicht als Einschränkungen empfunden werden.
Wie dabei vermieden werden kann, dass die Kosten z. B. bei der Lebensmittelproduktion nicht zu Lasten der weniger Begüterten gehen,
das ist Aufgabe der Sozialpolitik:
Soziales und Ökologie (Klimapolitik eingeschlossen) dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber das ist eine andere Diskussion.
Für die Kommunen und Regionen wird gefordert: „Wirtschaft darf nicht mehr als Rennen im Hamsterrad von Standortkonkurrenz, Wettbewerbsfähigkeit und blindem Wachstum gedacht werden.“
Auch da geht es um Lebensqualität.
Die Förderung von lokalen Unternehmen ist dazu sinnvoll, aber wichtig sind Wirtschaftsformen, die nicht auf Wachstum angewiesen sind.
Dazu gehören Genossenschaften mit entsprechenden Satzungen, Dorfläden oder die Berücksichtigung der Prinzipien der Gemeinwohlökonomie bei der Beschaffungspolitik der Kommunen.
Alle Formen von Gemeinnutzen wie der erwähnte „Bürgerweinberg“ können in Wohlstandsphasen leichter entwickelt werden.
Ökonomisch mögen sie unbedeutend sein, aber sie können ausgeweitet werden. Zudem ist ihr symbolischer Wert groß, denn sie zeigen: Es geht auch anders!
Menschen können Nachhaltigkeit. Insofern deuten solche Projekte einen Ausweg aus der Wachstumsfalle an. Sie sind wie entsprechend organisierte Genossenschaften oder
Zweckgemeinschaften oder dem Gemeinwohl verpflichtete Projekte nicht an Wachstum gebunden.
Ein Bürgerweinberg wie der an der Lahn bedeutet vermutlich viel Arbeit.
Die Motive Gemeinwohl-, Geselligkeits- und Interessenorientierung, die für das bürgerschaftliche Engagement genannt werden,
spielen vermutlich bei einem solchen Projekt eine Rolle.
Nicht viel anders ist es auch bei dem eigenen Nutzgarten. Der eigene Garten – hier in der ländlichen Region nicht unschwer zu realisieren – bedeutet für die Individuen Arbeit,
aber auch mehrfachen Gewinn: Aufenthalt an frischer Luft und Eigenproduktion von Nahrungsmitteln, und damit die Verwirklichung von Elementen von
Subsistenzwirtschaft.
Jeder Salatkopf, jede Tomate, die da erzeugt wird, braucht nicht im Supermarkt gekauft zu werden. Diese Nahrungsmittel wachsen unter kontrollierten Bedingungen auf (wie sagte doch die Ärztin zur Nachbarin, als sie deren Nutzgarten sah:
Da brauchen sie keine Angst vor Umweltgiften im Gemüse zu haben). Der eigene Komposthaufen erspart den Individuen Gebühren für die Abfallentsorgung und den Gemeinden Kosten für die entsprechenden
Einrichtungen (mich wundert, dass in der Corona-Krise nicht mehr von solchen Elementen von Subsistenzproduktion gesprochen wird).
Was zu einem anständigen Leben gehört, definieren die Individuen in ihren sozialen Lebenszusammenhängen gemeinsam mit jenen Mitmenschen, unter denen sie sich Ansehen, Reputation, Ehre, Vertrauen und Liebe sichern wollen. Zukunft lässt sich gewinnen, wenn Politik durch den Druck der Bevölkerung gezwungen wird, Pfade in die Richtung einer sozialökologischen Wende einzuschlagen. Viele Menschen wollen dabei mitgehen, denn ihnen sind Lebensqualität und Enkelgerechtigkeit (Zukunftsfähigkeit) so wichtig, dass sie bereit sind, auch Grenzen zu beachten. Junge Menschen auf der Suche nach sich selbst und nach Partnerinnen und Partnern werden manches auf ihre Weise werten. Aber auch für zeitweise exzessives Leben und für Lebensgenuss gibt es Chancen, wenn wirklich alle dabei auftretenden ökologischen und sozialen Kosten ehrlich kompensiert werden.
Denkbar sind Pfade in Richtung auf eine Politik, die Lebensqualität statt Wachstum ins Zentrum stellt, eine nachhaltige sozialökologische Lebensweise ermutigt und im öffentlichen Raum auf wirksame Weise Pfade einschlägt, die möglichst unumkehrbare Richtungswechsel bedeuten.
Ein sozialökologischer Umbau von Leben und Wirtschaft darf die Spaltung in Arm und Reich nicht vergrößern.
Er wird lange dauern, von Krisen begleitet sein und Konflikte hervorrufen. Damit er in Gang kommt, bedarf es auch der
emotionalen Identifikation großer Teile der Bevölkerung.
Am besten geschieht das über die Erfahrung, dass die erforderlichen Wandlungen einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität darstellen. Daher ist „Zukunft ein kulturelles Programm“, wie der Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann aus Frankfurt am Main 1997 schrieb.
© Dieter Kramer Montag, 16. November 2020