— Multatui, 1. Weltkrieg, Hohenzolllern, Johann Peter Hebel, Donbas, Timofej Sergejzew — 8 min read
Mein hochgeschätzter niederländischer Autor Multatuli (Eduard Douwes Dekker) (1820-1887) hat auf die geschichtsfälschenden Rekonstruktionen der Rheinburgen und Schlösser durch die Hohenzollern in den 1860er Jahren nur eine Antwort: Auslachen.
So einfach will ich es mir mit Putins Geschichtsphilosophie nicht machen. Außerdem halte ich es in den Blogs mit meinem Vorbild Kalendermann Johann Peter Hebel (1760-1826) mit seinem „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“: Die Anderen immer ernst nehmen.
Man kann die Abkehr Putins und Russlands von der Politik der Sicherheitspartnerschaft des späten 20. Jahrhunderts als Folge von irreversiblen Entwicklungen sehen, die erst im Nachhinein als zwingend scheinen, aber auch anders hätten ablaufen können. Angesichts der erkennbaren globalen Probleme konnten die Auflösung des Warschauer Paktes und die Neugliederung der Staaten der UdSSR (Union der sozialistischen Sowjetrepubliken) als Chance für eine Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur verstanden werden. Weshalb dann trotz der Bedenken vieler wichtiger Politiker auch des Westens (Kissinger und anderer) eine neue Konkurrenz der Großmächte sich durchsetzen konnte durch eine rasche (überstürzte, könnte man sagen) Eingliederung der osteuropäischen und baltischen Staaten in die EU und die NATO, muss die Geschichtsforschung klären. Jedenfalls konnte sie empfunden werden als Versuch einer Einkreisung Russlands, wie sie schon in der Kriegszielpolitik des Alldeutschen Verbandes im Ersten Weltkrieg vorgeschlagen wurde.
Noch in den 1990er Jahren erhielt Putin bei einer Rede im Deutschen Bundestag stehenden Applaus. Danach aber, möglicherweise aus Enttäuschung darüber, dass seine Vorschläge nicht ernst genommen wurden, machte er sich vertraut mit ganz anderen Theorien zur Rolle Russlands. Er entwickelte ein neues Großmachtprogramm, ausgehend von dem Wunsch, die einstige Größe der Sowjetunion wiederherzustellen. Putin verließ die Welt einer gemeinsamen globalen Verantwortung, und es erschienen ganz andere Stichworte in seinen Reden.
Es gibt ein Dokument eines vermutlich sehr einflussreichen Theoretikers, das in den Blättern für deutsche und internationale Politik im Mai 2022 in Übersetzung wiedergegeben wird. Es ist ein am 3. April 2022veröffentlichtes Programm zu einer planmäßigen „Entnazifizierung“ der Ukraine. (Dokumentiert: Sergejzew, Timofej: „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“. Blätter 5/22 S. 63 – 69) Der Autor soll eine Schlüsselrolle spielen. (S.59) Es ist eine „Anleitung zum Völkermord“, auf jeden Fall zum Ethnozid.
Das groteske Dokument verleugnet all das, was für Kulturwissenschaftler in Russland, Soziologen in aller Welt Standard ist: Es tut so, als könne man Kulturprozesse im gemeinschaftlichen Leben beliebig steuern, notfalls auch mit Gewalt. Es ist das brutalste Dokument, das mir in diesem Zusammenhang bekannt geworden ist. Es verlässt alle Standards, die durch die einst von der UdSSR mitbegründeten Vereinten Nationen für alle verpflichtend festgeschrieben sind, und in deren Sicherheitsrat Russland ständiges Mitglied ist.
Unterstellt wird im Zusammenhang mit den aufgeheizten und mit Gewaltanwendung ausgetragenen ethnischen Spannungen im Donbas (die mit dem „Minsker Abkommen pazifiziert werden sollten) „Völkermord“ durch die Ukrainer an der russischsprachigen Bevölkerung in diesen Gebieten (so wird immerhin die Bedeutung ethnischer Differenzierung anerkannt!) Belege dafür gibt es nicht – nirgendwo sind vor einem internationalen Gerichtshof entsprechende Verfahren eingeleitet. Im Unterschied dazu sind inzwischen russische Grausamkeiten in der Ukraine gut belegt.
Timofej Sergejzew behauptet, ein bedeutender Teil des ukrainischen „Volkes“ werde von einem Naziregime beherrscht. Aber das ist ein willkürliches Konstrukt von Nazismus, Nazis, Neonazis, das nirgendwo nachvollziehbar beschrieben wird. Man kennt ähnliches von Trump und seiner Feinbild-Konstruktion von „Antifa“.
Der einzige Versuch, den ukrainischen „Nazismus“ zu definieren, bezieht sich auf das Streben nach „Unabhängigkeit“ und nach einem „europäischen (westlichen, pro-amerikanischen) Weg der ‚Entwicklung‘“ Da müsste man sprechen von einem ethnisch-kulturellen Prozess mit der Tendenz zu einer von den Individuen angestrebten „imperialen Lebensweise“, wie sie z. B. auch bei den prosperierenden Milieus in Südamerika zu beobachten ist – ebenso wie bei den „Oligarchen“ und ihrem Umfeld in Russland. Da wird in der Tat eine Lebensweise angestrebt, die angesichts der globalen Wachstumsgrenzen nicht dauerhafte oder nachhaltig ist. In ihr leben die Menschen in reichen Regionen in der Welt auf Kosten der Ärmeren und, auf das Klima bezogen, auf Kosten der planetarischen Zukunft. In diesem Prozess bleiben Alternativen so lange ausgeschlossen, wie nicht attraktive Alternativen existieren: „Der kollektive Westen selbst ist der Konstrukteur, die Quelle und der Sponsor des ukrainischen Nazismus.“ (65) Aber auf diesem Weg ist längst auch Russland mit seinen Oligarchen und seiner Petro-Wohlstandsprogramm.
Für die Ukraine schließt Timofej Sergejzew: „Das heißt, wenn die Hypothese ‚das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht‘ nicht funktioniert“, muss die „Entnazifizierung“ auf brutalste Weise das ganze Volk erfassen (Stalin hatte 1945 die Maxime: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“). Maßnahmen gegen die „nazifizierte Masse der Bevölkerung“ beinhalten die „Vernichtung“ aller, die zu den Waffen gegriffen haben, ebenso müssen „aktive Nazis“ hart bestraft werden. Die Mehrheit der „passiven“ Nazis sollen die unvermeidlichen Lasten des Krieges tragen – eines Krieges, „der mit Blick auf die Zivilbevölkerung nach Möglichkeit schonend und vorsichtig geführt wird.“ (64 – davon merkt man nichts).
Nötig ist „Umerziehung“ durch „strenge Zensur“ in Kultur und Bildung (64) mit „unbedingter Kontrolle“ durch die Sieger. Der Zeitrahmen dafür kann „auf keinen Fall kürzer sein als eine Generation“ (65) Abenteuerlich ist das Versprechen: „Die in den von den Nazis befreiten Gebieten neu gegründeten Volksrepubliken müssen und werden aus der Praxis wirtschaftlicher Selbstverwaltung und der sozialen Fürsorge, der Wiederherstellung und Modernisierung der Existenzgrundlagen der Bevölkerung erwachsen“ – „unterstützt durch Russland.“ (66) Als ob es so etwas aus der Erbmasse der SU je gegeben hätte! Entstanden sind überall nur autoritäre Staaten, Diktaturen (denen auch im Westen außerhalb Europas oft nur fragile korrupte Oligarchien entsprechen).
An einer Stelle wird hingewiesen auf die Ethnologie: Die „Entukrainisierung“, die zu erzwingende Abkehr von einem kulturellen Prozess der Entwicklung eines selbstbestimmten sozialkulturellen Lebens, ist eine „Absage an die von den sowjetischen Behörden eingeleitete künstliche Aufblähung der ethnischen Komponente der Selbstidentifikation der Bevölkerung“ in diesen Gebieten. (66) Als ob man das willkürlich „künstlich“ beeinflussen könne! Die interessantesten und international rezipierten Ansätze von Gesellschaftswissenschaften und Ethnologie in Russland und der ehemaligen Sowjetunion haben die nicht willkürlich zu steuernde Dynamik solcher Prozesse beschrieben. Der Ethnologe Julian Bromlej hat auf historischer, materieller und ökonomischer Grundlage die Entstehung der Unterschiede zwischen kulturgeprägten Gemeinschaften (Ethnogenese) analysiert. (Bromlej, Julian: Ethnos und Ethnographie. Berlin 1977 [Veröff. des Museums für Völkerkunde zu Leipzig H. 28]). <Russ. 1973>
Er hat zwar wie Lenin einen „globalen Zusammenschluss der Nationen“ erwartet, aber der Weg dazu, meint er, sei freilich „außerordentlich lang und kompliziert“, ihn „künstlich zu forcieren“ sei als „nationaler Nihilismus“ genauso falsch wie die Hemmung dieses Prozesses durch Nationalismus. Heute schlägt Timofej Sergejzew vor, diesen Prozess mit brutalster Gewalt zu steuern. Wenn manche Theoretiker im Westen in den frühen 1990ern meinen, die kommunis Er wirft dem Westen vor, sich in die Abhängigkeit von den USA begeben zu haben. Aber nur, wenn Europa sich ohne den Schutz der USA sicher fühlen kann, lässt sich diese Abhängigkeit mindern.en Staaten hätten den Nationalismus wie unter einer Eisdecke gebunden, so ist dieses Bild genauso wenig überzeugend wie die Interpretation, die lang ersehnte Freiheit habe endlich die nationalen Gefühle wieder frei gesetzt: Verantwortlich sind Prozesse mit vielfältigen Ursachen, nicht zuletzt sozialen, ökonomischen und außen(bündnis-)politischen Motiven. Sie sind nicht voluntaristisch beeinflussbar. Bromlej hat darauf aufmerksam gemacht.
Ethnologen und Soziologen auch in Russland reden seit langem von „Ethnogenese“ als einem historischen Prozess, in dem Gemeinschaften durch Impulse von außen und durch innere eigene Dynamik (Fremd- und Selbstzuschreibung) dazu kommen, sich als eine von anderen Gruppen unterschiedene Ethnie zu verstehen. Sie sind Teil der für das Überleben der Menschheit „angesichts der Unwägbarkeiten der Zukunft unverzichtbaren Vielfalt“ (Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development. UNESCO-Publishing, Paris 1995/1996 <Pérez de Cuéllar-Report>)
Auch Bromlej registriert als „ethnisches Paradoxon“ seiner Gegenwart der 1970er Jahre eine „Tendenz zur Verstärkung des ethnischen Selbstbewusstseins, ungeachtet der Abschwächung ethnischer Eigenschaften“ (ebd.: 98). Es sind Prozesse der Herausbildung von Gemeinschaft und Ordnung, von Symbolen und Ritualen, von Sozialkultur und Vergesellschaftung. Wenn ethnisch-kulturelle Unterschiede an Bedeutung gewinnen, muss nach den Triebkräften und Motiven dafür gefragt werden. Dass Markt und Konsum dabei eine Rolle spielen ist selbstverständlich. Aber die Ethnologen wissen auch, dass sie trotz aller entsprechenden Versuche nicht beliebig beeinflussbar sind. Nur wenn man diese Prozesse analysiert, lassen sich Handlungsstrategien für einen konfliktarmen und die Lebensqualität berücksichtigenden Umgang damit gewinnen.
Der Text von Timofej Sergejzew wirkt auf mich wie ein vielfacher Verrat an dem, was in Russland gleistet wurde. Die ganze aufklärerisch und humanistisch geprägte Kultur Russlands seit dem späten 18. Jahrhundert, vor allem die Literatur russischer Sprache, die seit dem 19. Jahrhundert von Puschkin, Tolstoi, Dostojewski bis Gorki in Westeuropa und darüber hinaus einflussreich wirkte, wird dadurch entwertet. Sie scheint nicht mehr relevant zu sein angesichts der Brutalität der expansionistischen Kriegspolitik Putins. Und wenn nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands programmatisch angeknüpft wurde an die klassische deutsche Literatur, so erscheint das unter diesen Gesichtspunkten als Fehler. Entwertet wird auch Vieles, was trotz autokratischer Herrschaft in Russland insgesamt, vor allem aber nach Stalin, an Theorie und ästhetisch-kultureller Leistung entwickelt wurde.
Gefordert wird: „Russland muss seine eigenen pro-europäischen und pro-westlichen Illusionen aufgeben.“ (Timofej Sergejzew S. 69) Da müssen sich die Oligarchen und ihre Sympathisanten angesprochen fühlen, denn viele Menschen in Russland sind als Konsumenten ja längst auf diesem Weg. Russland muss jene „Werte des historischen Europa“ bewahren, „die es verdient haben und die der Westen schließlich aufgegeben hat, nachdem er den Kampf um sich selbst verloren hat“ (69) Das erinnert an Zivilisationskritik aus der Zeit der Vorbereitung des Nationalsozialismus (Berdjajew, Spengler, Jünger, Carl Schmitt u.a.)
Sie hat Georg Lukács schon längst zurückgewiesen als ideologische Konstrukte. (Lukács, Georg: Die Grablegung des alten Deutschland. Ausgewählte Schriften I. rde 1967.; vgl. Gess, Heinz: Einiges Russland. Mit Alexander Dugin wird eine großrussische, völkische Ideologie mit „Großreichsdenken“ konstruiert.Der Putinismus ist eine großrussische, völkische Ideologie. In: IZ3W Mai/Juni 2922 (390) 14-16)
Bei Timofej Sergejzew liest man: „Russland hat im 20. Jahrhundert alles getan, um den Westen zu retten. Es verwirklichte das wichtigste westliche Projekt, die Alternative zum Kapitalismus, die die Nationalstaaten besiegte – das sozialistische, rote Projekt.“ (S. 69) Das ist eine pennälerhafte Geschichtsinterpretation. Der Westen lehnte all diese Opfer ab. „Von nun an wird Russland seinen eigenen Weg gehen, ohne sich um den Westen zu kümmern, und dabei auf einem anderen Teil seines Erbes aufbauen: der Führungsrolle im globalen Entkolonialisierungsprozess.“ (69) „Die Entnazifizierung der Ukraine ist gleichzeitig ihre Entkolonialisierung – eine Tatsache, die die ukrainische Bevölkerung verstehen muss, wenn sie beginnt, sich von den Gespenstern, Versuchungen und Abhängigkeiten der sogenannten europäischen Wahl zu befreien.“ (69, Ende des Sergejzew-Textes) Da versagt jeder Versuch, das zu verstehen und nachzuvollziehen.
Wenn man den abenteuerlichen Gedanken ernst nehmen wollte, dass Russland den Westen vor sich selbst, vor der zerstörerischen grenzenlosen Wachstumsgesellschaft, retten will, dann muss man feststellen: Da ist alles uneingelöst, uneinlösbar durch Russland. Eine Rettung vor dem selbstzweckhaften vernichtenden Markt-Kapitalismus durch ein System von korrupten Oligarchen, die treibender Teil der Einführung einer imperialen Lebensweise in Russland sind, auch nur zu denken, ist ein Hohn: Russland steckt selbst tief in dem korrupten Sumpf der Wachstumsgesellschaft. Ähnlich wie der „Westen“ ist es auf fosssile Energien angewiesen: Von einer auf Extraktivismus (Gewinnung von fosssilen Energien und mineralischen Ressourcen durch Abbau) angewiesenen Gesellschaft zu erwarten, dass sie Klimaprobleme lösen hilft, ist absurd. „Öl steht für eine ganze Weltanschauung“. (Naomi Klein: Toxische Nostalgie. Blätter 4/22, 104-112) Aber die Herrschaft des Menschen auf der Erde geht zu Ende, die Zeit des Nehmens ist vorbei (kann man auch mit Alexander von Humboldt argumentieren). Putins „Petrostaat“ nimmt keine Rücksicht auf das Klima.
Timofej Sergejzew wirkt wie eine primitive faschistische Geschichtsphilosophie zur Rolle Russlands. Ich würde mit Putin gern darüber diskutieren, warum er die Thesen eines solchen primitiven ideologischen Machwerks in seinen Reden aufgreift - wenn es sein muss, an dem lächerlichen langen Tisch.
Imperiale Großmächte wie Russland, Rechtspopulisten und Klimawandelleugner sehnen sich zurück nach den Zeiten der fossilen Brennstoffe. (Naomi Klein ebd.) So wie Putins Petrostaat die Herrschaft beansprucht, ist der Extraktivismus der USA Teil der „Manifest Destiny“ der Herrschaft der (christlichen) weißen Männer. Der Weltklimarat erinnert 2022 an das aktuelle „Zeitfenster“ für einen „Green New Deal“ – das eigentlich mit dem Petro-Staat Russland entstehen müsste (Ökopartnerschaft)
Und Demokratieprobleme im Verbund mit den weißen Rechten lösen zu wollen ist wohl auch illusionär. Die haben auch zur Klimakrise überhaupt keine Ideen.
Der angeblichen „Genozid“ durch „zersetzenden Liberalismus“ aus dem Westen soll abgewehrt werden. Den Ukrainern wird entgegen alle ethnologischen und sozialkulturellen Befreiung vom „westlichen Totalitarismus“ und den „aufgezwungenen Programmen der zivilisatorischen Degradierung und des Zusammenbruchs“, den „Mechanismen der Unterordnung unter die Supermacht des Westens und der USA“ (Timofej Sergejzew 69) Man bezieht man sich auf Denker des Ethnopluralismus der europäischen Rechten und ein neues „differentialistisches völkisches Denken“, das authentische und singuläre Kulturen konstruiert. Längst haben Julian Bromlej ebenso wie die Ethnologen in aller Welt ein solches „Containerdenken“, das in jeder Ethnie eine geschlossene Einheit sieht, zurückgewiesen und Ethnien als dynamische, sich wandelnde und wandlungsfähige Konstrukte definiert. Dem entspricht es, wenn Ethnien voneinander unterschieden werden, aber verstanden sind als Teil der für das Überleben der Menschheit angesichts der Unwägbarkeiten der Zukunft unverzichtbaren Vielfalt (Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development. UNESCO-Publishing, Paris 1995/1996 <Pérez de Cuéllar-Report>)
© Dieter Kramer Donnerstag, 12. Mai 2022