— Nationalsozialisten, Martin Niemöller, KZ Buchenwald, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Dickenschied, Bekennende Kirche, Deutsche Christen, Hadamar — 6 min read
Zum 11.April, dem Tag der Befreiung von Buchenwald. Immer weniger kennen noch Stichworte zu den Verbrechen des 12jährigen „Tausendjährigen Reiches“ der Nationalsozialisten. Sie waren begründet mit den „völkischen“ Ideen und „Identitäts-Phantasien“: Rassische Unterschiede (niemals bewiesen) sollten einer germanischen, weißen Herrenrasse das Recht geben, über andere zu herrschen, sie zu Dienern (wie die slawischen Völker) oder wie die Juden zu am besten auszurottenden Feinden zu erklären.
Die Herrschenden entschieden auch, wer von ihrer eigenen Bevölkerung „lebenswert“ sein soll oder wer nicht. Ich habe noch mit Menschen gesprochen, die wußten, was die rauchenden Schornsteine der „Anstalt“ von Hadamar im Westerwald bedeuteten:
Da wurden „lebensunwerte“ Behinderte aller Art, nachdem man sie getötet hatte, verbrannt.
Um zu herrschen, mussten die Gegner dieser Herrschaft ausgegrenzt, kriminalisiert werden. Meist denkt man bei Konzentrationslagern an Juden. Aber die kamen erst viel später in solche Lager.
In Osthofen bei Mainz entstand nach Dachau eines der ersten „Konzentrationslager“ (lange Zeit war es völlig vergessen) für Oppositionelle aller Art, für Sozialdemokraten, Kommunisten, Freidenker, auch für Homosexuelle.
Die aus Mainz stammende Schriftstellerin Anna Seghers hat in dem Roman „Das siebte Kreuz“ die Jagd und Ermordung von Menschen, die aus dem Lager geflohen waren, geschildert (noch zu NS-Zeiten wurde er in den USA verfilmt).
Das „Moorsoldatenlied“ der zur Arbeit bei der Entwässerung von Moorgebieten gezwungenen politischen Häftlinge gehörte noch lange zum Standard-Repertoire von Jugendgruppen. Das sind für viele Stichworte zum Nationalsozialismus in unserer Gegend. Von der Verfolgung von „Zeugen Jehovas“ wissen heute noch manche, und vor allem weiß man von den Juden, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und in die „Vernichtungslager“ gebracht wurden (eine Ausstellung in mehreren Städten unserer Region erinnert derzeit daran).
Im südlichen Hunsrück, in dem Dorf Dickenschied wird an ein Opfer der Nationalsozialisten erinnert: Den „Prediger von Buchenwald“, Pfarrer Paul Schneider (1897- 18. Juli 1939)
Auch er gehört zur „Heimat“ (ich weiss nicht, ob er in den Heimat-Filmen von Edgar Reitz erwähnt wird). Er wurde am 18. Juli 1939 in dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar ermordet. Zum 25. Todestag von Pfarrer Paul Schneider hielt der protestantische Pfarrer Martin Niemöller am 5. Juli 1964 eine Gedenkrede in Dickenschied/Hunsrück. Es ist eine Rede mit dem ihm eigenen evangelisch-christlichen Pathos:
„Wehe uns, wenn wir die Erinnerung an ihn vom Gestrüpp des Vergessens überwuchern ließen. Denn das würde bedeuten, daß wir den Maßstab verloren hätten für das, was wahrhaft echt und wesentlich ist.“ (23)
Dieses Pathos ist für die allermeisten Menschen heute (2021) nicht mehr nachvollziehbar, aber es ist Bestandteil einer Welt, in der viele junge Menschen jetzt mit neuen Pathos dazu aufrufen, die Zeichen der Krise ernst zu nehmen, auf die Wissenschaft zu hören und die Erwachsenen zu fragen: How dare you? Wie könnt ihr es wagen, unsere Zukunft zu zerstören, die der Jungen Menschen, von denen viele noch das Jahr 2100 erleben können?
Zu Zeiten von Paul Schneider versuchten die Nationalsozialisten, das Christentum für ihre Zwecke zu verwenden. Aber: „Der Jude Jesus von Nazareth erwies sich als unbrauchbar für die nationalsozialistischen Zielsetzungen“, trotz aller Umdeutungsversuche, die die sogenannten „Deutschen Christen“ vornahmen.
In Opposition dazu entstand auf der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 die „Bekennende Kirche“, die den Staat aufforderte, sich nicht in Glaubensdinge hineinzumischen.
In ihren Reihen fand auch Paul Schneider, seit 1934 Pfarrer für Dickenschied und Womrath, seinen Platz.
Kurz nachdem er seine Pfarrstelle angetreten hatte, gab es einen Konflikt zwischen ihm und der NSDAP: Bei der Beerdigung des Hitlerjungen Moog in der Nachbarkirchengemeinde Gemünden sagte der NS-Kreisleiter, dass der Verstorbene in den himmlischen Sturm Horst Wessels eingegangen sei (ein bei einer Demonstration umgekommenen und zum Helden stilisierter Nationalsozialist, der in dem nach der Melodie eines alten linken Arbeiterliedes gesungenen „Horst Wessel Lied“ als Held aufgebaut wurde). Daraufhin meinte Paul Schneider, ob es einen himmlischen Sturm Horst Wessel gebe, wisse er nicht, aber Gott möge den Jungen segnen und ihn in sein Reich aufnehmen. Da trat der Kreisleiter noch einmal vor und wiederholte seine Aussage. Empört entgegnete Paul Schneider: „Ich lege Protest ein. Dies ist eine christliche Beerdigung, und ich bin als evangelischer Pfarrer verantwortlich dafür, dass das Wort Gottes unverfälscht verkündet wird!“ Am Tag darauf wurde er zum ersten Mal verhaftet.
Diese als „Schutzhaft“ deklarierte Maßnahme sollte eine Woche dauern.
Am 5. März 1935 verlas Schneider ein „Wort an die Gemeinden“ gegen das „Neuheidentum“ der „rassisch-völkischen Weltanschauung“, das von allen bekenntnistreuen Pfarrern am 17. März im Gottesdienst verlesen werden sollte. Das Reichsministerium des Innern verbot die Ankündigung dieses Textes und die Gestapo verlangte von allen Pfarrern entsprechende Erklärungen; Schneider verweigerte diese und wurde deshalb vom 16. März bis zum 19. März in Kirchberg/Hunsrück inhaftiert. Am 29. März 1936 fand eine Reichstagswahl statt. Paul und seine Ehefrau Margarete Schneider gingen nicht zur Wahl, da auf dem Wahlzettel nur ein „Ja“ angekreuzt werden konnte.
In der Nacht auf Ostern, also dem nächsten Sonntag, wurde das Pfarrhaus beschmiert:
„Er hat nicht gewählt! Vaterland? Volk, was sagst du?!“
Diese Schrift wurde noch vor dem Ostergottesdienst in Dickenschied von Gemeindemitgliedern beseitigt.
Am 31. Mai 1937 wurde Schneider erneut verhaftet, weil er sich weigerte, zwei seiner Konfirmanden zu einem „deutsch-christlichen“ Pfarrer einer Nachbargemeinde gehen zu lassen, vom dem die „deutsche Glaubenslehre“ der Nationalsozialisten vertreten wurde.
Schneider wurde bis zum 24. Juli 1937 im Koblenzer Gestapo-Gefängnis in „Schutzhaft“ gehalten, dann freigelassen mit Aufenthaltsverbot für die Rheinprovinz, in der seine Gemeinde lag.
Als er aber von seinen Kirchenvorgesetzten gebeten wurde, zu seiner Gemeinde zurückzukehren, tat er dies, nicht ohne gegenüber dem Regierungspräsidenten, dem Reichsinnenminister und sogar der Reichskanzlei seine Entscheidung ausführlich zu begründen. Er hielt am 3. Oktober 1937 den Gottesdienst zum Erntedankfest in Dickenschied. Auf dem Weg zum Gottesdienst in Womrath, der am Nachmittag stattfinden sollte, wurde er, weil Dickenschieder ihn inzwischen denunziert hatten, verhaftet und wieder in das Gefängnis der Geheimen Staatspolizei Koblenz gebracht. Am 27. November 1937 wurde er nach Weimar in das neu errichtete KZ Buchenwald verlegt, wo er Zwangsarbeit verrichten musste.
Der Arbeit im Straßenbau und an weiteren Stellen konnte er aufgrund seiner guten körperlichen Verfassung standhalten, manchmal sogar für andere Häftlinge Arbeit mit übernehmen.
Beim Fahnenappell anlässlich des Führergeburtstages am 20. April 1938 verweigerte er den Hitlergruß und nahm seine Mütze nicht ab. Als Begründung gab er an:
„Dieses Verbrechersymbol grüße ich nicht!“
Daraufhin wurde er öffentlich mit Stockschlägen bestraft und in eine Einzelzelle
des Arrestgebäudes („Bunker“) gesperrt. Trotz schwerster Misshandlungen unterließ er
es auch weiterhin nicht, aus seiner Zelle heraus zu predigen.
So wurde er im Konzentrationslager, in dem zu jener Zeit politisch, religiös oder rassisch Verfolgte
sowie Kriminelle einsaßen – das „Judenlager“ wurde erst nach den Novemberpogromen 1938 errichtet –,
für seine Mitgefangenen zum „Prediger von Buchenwald“.
Am Ostersonntag soll er sich trotz größter Schmerzen an den Gitterstäben seiner Zelle hochgezogen
und den Tausenden von Häftlingen draußen auf dem Appellplatz zugerufen haben:
„Kameraden, hört mich. Hier spricht Pfarrer Paul Schneider. Hier wird gefoltert und gemordet. So spricht der Herr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘“
Weiter kam er nicht. Massive Stockschläge ließen ihn verstummen. Über ein Jahr lang wurde Paul Schneider in der Einzelzelle gefangen gehalten, dann am 18. Juli 1939 bei einer medizinischen Behandlung durch eine starke Überdosis des Herzmedikaments Strophanthin ermordet.
Schneider erlebte so die Befreiung des Lagers Buchenwald nicht: Am Morgen des 11. April 1945 nähern sich Einheiten der amerikanischen Armee dem Lager. Um 10 Uhr kündigt der SS-Kommandant von Buchenwald dem Lagerältesten den Abzug der Wachmannschaften an.
Eine halbe Stunde später mobilisiert das Internationale Lagerkomitee die Widerstandsgruppen und gibt die illegal besorgten Waffen aus. Die Häftlinge besetzen die Wachtürme, übernehmen ohne große Gegenwehr das Lager und jagen in der Umgebung flüchtige SS-Leute.
Am Nachmittag treffen die ersten Amerikaner im Lager ein.
Am 19.April 1945 findet im befreiten Lager ein Treffen statt, in dem es zum „Schwur von Buchenwald“ kommt: Die Buchenwalder Antifaschisten bekennen „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“ Sie danken „den verbündeten Armeen der Amerikaner, Engländer, Sowjets und allen Freiheitsarmeen, die uns und der gesamten Welt den Frieden und das Leben erkämpfen. Wir gedenken an dieser Stelle des großen Freundes der Antifaschisten aller Länder, eines Organisatoren und Initiatoren des Kampfes um eine neue, demokratische, friedliche Welt, F. D. Roosevelt. Ehre seinem Andenken!“ An diesen Schwur von Buchenwald erinnert der Schriftsteller Stefan Hermlin 1960 in einer Rede, in der drei der mehr als 50.000 in Buchenwald ermordeten Menschen symbolhaft vom ihm zusammen genannt werden:
Paul Schneider, den Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und den Kommunisten Ernst Thälmann: Sie stehen ihm für drei Säulen des nichtmilitärischen und demokratischen Widerstands gegen Hitler und die Nationalsozialisten, 50.000 Toten von Buchenwald aus 20 Nationen, allen Weltanschauungen und politischen Lagern, „sich nach einer gütigeren, freundlicheren Welt sehnend bis zuletzt. Was sie ihren Mördern so unerträglich machte, war wahrscheinlich dies: Sie alle zusammen repräsentierten in ihrer furchtbaren Erniedrigung die Würde des Menschen“.
© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de