Skip to content

R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

1. Schlechte Zeiten für kämpferische Pazifisten

Martin Niemöller, Fritz von Unruh, Ukraine, Herero-Aufstand, Konrad Adenauer, eurasische Rasse5 min read

Es gab nach 1945 eine hohe Zeit des Pazifismus und der Kriegsdienstverweigerung in einem Deutschland, das zuvor an der Entstehung von zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert maßgeblich beteiligt gewesen war. Martin Niemöller (1892-1984), Präsident der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, gehörte zu den Impulsgebern für diesen Pazifismus. Er lebte und wirkte in Wiesbaden. In unserer Gegend, im unteren Lahntal, lebte viele Jahre der Schriftsteller und „kämpferische Pazifist“ Fritz von Unruh (1885-1970).

Mit dem völkerrechtswidrigen, allein der Expansion der Einflusssphäre dienenden Überfall Russlands auf die Ukraine brechen alle früheren Versuche der globalen Sicherheitspartnerschaft, der Vereinbarungen von KSZE und OSZE, der Rüstungsbegrenzungsvereinbarungen zusammen. Pazifismus ist gezwungen, sich neu zu orientieren. Solange es keinen Krieg gibt, wird jede am Frieden interessierte Macht sich anstrengen, notfalls mit ihren militärischen Mitteln, über „Peace keeping“-Aktionen Kriege zu vermeiden und so Krieg und Völkermord abzuwenden – auch und vor allem mit Hilfe der Vereinten Nationen. Wenn alle Versuche Krieg zu vermeiden scheitern, dann muss ebenso der „kämpferische Pazifismus“ einsehen, dass man die Ausweitung der Gewalt auch gewaltsam verhindern muss und kriegführende Mächte dadurch an einen internationalen Verhandlungstisch zwingen muss.

Fritz von Unruh (1885-1970) lebte viele Jahre in unserer Gegend, im unteren Lahntal. Dieser „kämpferische Pazifist“ ist Sohn eines Generals, wird er in Plön in einer Kadettenanstalt erzogen, um Offizier zu werden. Eine solche Kadettenerziehung macht Jungen zu militärischen Automaten, die jederzeit bereit sind, Befehle zu erhalten, Gehorsam zu üben und selbst zu befehlen. Sie müssen bereit sein, gegebenenfalls auch auf die eigenen Mitmenschen zu schießen beziehungsweise schießen zu lassen. Der Schriftsteller Ernst von Salomon (1902-1972) hat in dem Roman „Die Kadetten“ die Ziele und die Rücksichtslosigkeit dieser Ausbildung beschrieben.

Fritz von Unruh durchläuft eine solche Kadettenschule, nimmt am 1. Weltkrieg teil. Noch im dritten Jahr jenes Krieges konnte vom „Alldeutschen Verband“ als deutsches Kriegsziel verkündet werden: „Die Grundforderung lautet, Rußland vom Westen abzukehren, indem wir versuchen die russischen Ostseeprovinzen Kurland, Livland, Estland sowie das Gebiet, das die Landbrücke zwischen den ‚baltischen‘ Provinzen und Ostpreußen bildet, an das Deutsche Reich anzugliedern.“

Aus diesem Krieg kehrte Fritz von Unruh als „kämpferischer Pazifist“ und Kriegsgegner kehrt. Seit 1916 wohnen er und seine Familie nahe bei Diez an der Lahn im Hof Oranien, am Weg nach Schloss Oranienstein. (Lenz-Fuchs 1986)

Man kann sich vorstellen, wie schwer es für ihn war, sich von seiner militärischen Prägung freizumachen. Er tat dies als Schriftsteller. Schon 1911 beginnt er zu schreiben: In seinem Drama „Offiziere“ von 1911 feiern gelangweilte, vorher als Kadetten ausgebildete Offiziere den Ausbruch des Herero-Aufstandes in Namibia/Afrika (1904) als willkommene Unterbrechung und gehen nach Afrika in den Krieg. In dem Theaterstück versucht Unruh in dem Konflikt zwischen Gehorsam und Verantwortung den preußischen Offiziers-Pflichtbegriff aus der Enge seiner überholten Standesmoral zu lösen. Dabei siegt die Verantwortung: Weil er sich für seine Soldaten verantwortlich fühlt, widersetzt sich im Theaterstück der Offizier den Befehlen seines Vorgesetzten. Dieses Stückes wegen muss von Fritz von Unruh 1913 aus dem aktiven Dienst als Offizier ausscheiden. Sein nächstes Stück „Louis Ferdinand Prinz von Preußen“ wird von Kaiser Wilhelm II. persönlich verboten, weil wieder der Konflikt zwischen Befehl und Gehorsam zugunsten der Moral entschieden wird.

Fritz von Unruh ist als Kriegsgegner und kämpferischer Pazifist noch in den 1920er Jahren ein erfolgreicher Autor. 1932 warnt er vor einem kommenden Vernichtungskrieg: „Bald werden auf dem Potsdamer Platz in Berlin die Schafe weiden.“ (Wikipedia) Es kam in der Tat so. Als 1933 seine Berliner Wohnung aufgebrochen wird und seine Schriften bei den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen mit auf den Scheiterhaufen kommen, geht er nach Italien, dann in die USA. 1948 kehrt er erstmals nach Deutschland zurück. Hof Oranien bei Diez wird nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihm ein Ort der lebendigen Begegnung vieler Personen aus Kultur und Kunst. (Lenz-Fuchs)

Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb trifft ihn in Diez und bittet ihn, am 18. Mai 1948 die Festansprache zum Jubiläum der 1848er Nationalversammlung und zur feierlichen Übergabe der restaurierten Paulskirche zu halten. In dieser Rede ist die Abkehr von Militarismus und von nationaler Überheblichkeit ein zentrales Thema.

2022, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine kommt der „kämpferische Pazifismus“ nicht mehr gut an.

Nach 1945 war möglich, guten Gewissens Kriegsdienst zu verweigern: Da waren in Deutschland Pazifismus und Friedensforderung nach innen gerichtet, „weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen“ Mentalität: Von Deutschland soll nie wieder ein Krieg ausgehen, war die Botschaft des Grundgesetzes, aber auch des Pazifismus. Man war überzeugt: „Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht.“ (Wette 2022) Die Wiederbewaffnung und die Gründung der Bundeswehr waren in diesem Zusammenhang höchst umstritten.

Angesichts der Drohung, in der Verteidigung des eigenen Landes mit Atomwaffen die Existenz dieses Landes, ja der ganzen Menschheit zu riskieren, verlor die Fangfrage für Kriegsdienstverweigerer bei der Prüfung der Anerkennung als Verweigerer ihre Bedeutung: Gefragt wurde da: Was würden Sie tun, wenn ihre Freundin im Park bedroht wird und sie hätten eine Waffe dabei? Wenn man die Freundin verteidigte, war man kein wirklicher Pazifist. Bei einem Krieg gegen die damalige Sowjetunion war die Rheingrenze als letzte Verteidigungslinie vorgesehen, östlich davon hätte alles aufgegeben werden können. Eingeschlossen war die potenzielle Sprengung der Loreley, um die ganze östliche Rheinebene bis Basel unter Wasser zu setzen, und, später, das mit atomaren Gefechtsfeldwaffen unpassierbar zu machende „Fulda gap“

Das war die Zeit, in der die Bewegung der Ostermärsche gegen atomare Bewaffnung Strategien der Zivilverteidigung ohne Atomwaffen und ohne schwere Kriegswaffen durchdachte. Angesichts der Veränderungen in der Sowjetunion seit Stalins Tod konnte man auch darauf bauen, dass die Sowjetunion mit internationalen Verträgen zu einer „friedlichen Koexistenz“ bereit sein würde. Die dann folgenden Verträge und Abrüstungsvereinbarungen versprachen noch bis nach 1990 die Chance einer Sicherheitspartnerschaft und einen „Wandel durch Annäherung“ mit dem Ausbau von Handelsbeziehungen, Öl und Gas eingeschlossen.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert war die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1975) von Helsinki eine Etappe des Ausbaus der friedlichen Koexistenz. Deren Ergebnisse ermöglichten mit der OSZE (der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit) die dann folgenden Veränderungen des Ostblockes. Das wurde damals nur problematisiert, weil manche immer noch den Expansionismus eines sozialistisch-kommunistischen Programms zur Umgestaltung der Gesellschaft unterstellten. Inzwischen ist es der bloße Großmachtsanspruch von Putin, der mit einem an den Nationalsozialismus erinnernden Geschichtsbild einen Krieg in der Ukraine angefangen hat.

Gegen rücksichtslose Gewalt sich zu wehren ist eine legitime Reaktion. Der kämpferische Pazifismus zielte darauf, die Staaten aufzufordern, ja zu drängen, sich um die Sicherung von Frieden mit allen ihren Mitteln zu bemühen Solange es keinen Krieg gibt, wird jede am Frieden interessierte Macht sich anstrengen, Gewalt zu vermeiden und über „Peace keeping“-Aktionen in Konflikten mit Konfliktmoderation Frieden zu sichern – auch mit militärischen Mitteln im Hintergrund, und vor allem mit Hilfe der Vereinten Nationen. Wenn alle Versuche Krieg und Völkermord zu vermeiden scheitern, dann wird auch der „kämpferische Pazifist“ einsehen, dass man die Ausweitung der Gewalt auch gewaltsam verhindern und kriegsführende Mächte an einen internationalen Verhandlungstisch zwingen muss.

Mit der gewaltsamen Expansion der Einflusssphäre durch den Überfall Russlands auf die Ukraine brechen alle früheren Versuche der globalen Sicherheitspartnerschaft, der Vereinbarungen von KSZE und OSZE, der Rüstungsbegrenzungsverträge zusammen. Nur die Internationale Raumstation zieht, scheinbar aus der Zeit gefallen, noch immer ihre Kreise.

Der „kämpferische Pazifismus“ erinnert auch jetzt an die Grenzen der Gewalt: „Unbezwingbar ist allein der Geist“, war das Motto von Fritz von Unruh. Ein Weltreich steht auf tönernen Füßen, wenn es nur mit Gewalt errichtet wird und nichts weiter als die Idee der Herrschaft einer „eurasischen Rasse“ (ähnlich derjenigen der Nationalsozialisten) vertritt. Und wenn Gewalt zum alleinigen Mittel der Politik wird, kann auch der Pazifist nach geeigneten Waffen greifen.

© Dieter Kramer 11.05.2022

Logo

© 2023 by Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals.

All rights reserved.