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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Reichsfahnen und Reichsbürger

Reichsbürger, Reichsfahne, Thomas Mann, Hunnenrede, Walter Ritter5 min read

Es gibt auch in unserer Region vereinzelt „Reichsbürger“, die andere dazu bewegen wollen, sich mit einem Ausweis zu Bürgern eines untergegangenen Reiches zu machen (einst hat die „Freie Republik Wendland“ bei der Auseinandersetzung um das Atommüll-Endlager scherzhaft solche Ausweise ausgegeben, als Spaß gab es vor Jahren auch den Ausweis für die „Republik Flaschenhals" bei Kaub und Lorch).

Man kann Reichsbürger für Sonderlinge halten. Aber erstaunt hat mich, wie demonstrativ Reichsbürger und Verwandte Ende August 2020 versuchen, nach dem kopierten Muster osteuropäischer Demokratiebewegungen den deutschen Reichstag zu besetzen und gerade mal drei Polizisten sie daran hindern konnten.

Die Reichsbürger schwenken, weil die Fahnen mit dem altindischen Swastika-Symbol, gemeinhin Hakenkreuz genannt, verboten sind, ersatzweise dem Kaiserreich nachempfundene Fahnen. Woran denken diese Menschen dabei?
Denken sie an jenes deutsche Kaiserreich, das lange Zeit regiert wurde mit Formen der Unterdrückung, wie sie heute aus osteuropäischen Diktaturen wie in Belarus (Weißrussland) bekannt sind: Verbot von demokratischen Organisationen (Sozialistengesetz von 1878 bis 1890, verbunden mit Ausweisungen missliebiger Politiker), Drohungen mit Waffengewalt gegen streikende Arbeiter vorzugehen, Kriminalisierung von Homosexualität und mit einem heute überhaupt nicht nachvollziehbarem Personenkult und Patriotismus.

In Bornich bei der Loreley findet, wie in vielen Dörfern in dieser Zeit, zur Jahrhundertwende am 1.1.1900 eine „patriotische“ Feier statt.

„Mit der Proklamation König Wilhelms I. von Preußen zum Deutschen Kaiser hat unser Vaterland endlich den Platz erreicht, der ihm gebührt. Nach Wilhelm dem Großen und dem heldenmütigen Dulder Friedrich III. sitzt heute Kaiser Wilhelm II. auf dem Thron, umgeben von den deutschen Bundesfürsten und das Reich ist stark und fest wie nie zuvor“ (Zitat aus der Schulchronik. Aus der Rede: Bornich 125)
Das ist noch relativ bescheiden.

Wer sich ein Bild von dem Kaiser- und Preußenkult machen will, der muss den Roman „Der Untertan“ von
Heinrich Mann, dem Bruder von Thomas Mann, lesen. Das ist jenes Kaiserreich, unter dessen Reichskriegsflagge die kolonialen Eroberungskriege der Deutschen geführt wurden.

Es ist die Flagge, unter der die Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Kriegsflotte im Mittelmeer und anderswo auftritt und damit Großbritannien wie Frankreich provoziert.

Es ist auch die Flagge, unter der das deutsche Expeditionskorps 1900 nach China geführt wurde, um gemeinsam mit anderen den „Boxeraufstand“, eine antiimperialstische Bewegung, niederzuschlagen.

Kaiser Wilhelm II. hatte ihr in seiner „Hunnenrede“ auf den Weg mitgeben: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ (Wikipedia) Hoffentlich erinnern sich im 21. Jahrhundert nicht allzuviel Chinesen an diese Rede!

Denken die „Reichsbürger“ an dieses Kaiserreich, das im Kolonialkrieg in Namibia die Hereros mit Frauen und Kindern in die Wüste trieb, damit sie dort verdursten?

Mit der Niederlage von 1918 hatte dieses Regime für die Mehrzahl der Bevölkerung so sehr verspielt, dass in der Weimarer Republik zwar gegen den Protest der demokratischen Parteien die Fürsten großzügig abgefunden wurden und nur eine Minderheit sie wiederhaben wollte.

Der Zweite Weltkrieg ist gleichsam die Fortsetzung des Ersten. Dessen nicht verdaute Niederlage und die Politik der Sieger ermöglichten dem Demagogen A.H. in Deutschland eine Bewegung aufzubauen, deren Erfolge (nie hat sie wirklich die Hälfte der Wähler mobilisieren können) den General des Ersten Weltkriegs Paul Hindenburg (es gibt immer noch Straßen und Plätze, die nach diesem Wegbereiter des Hitler-Staates benannt sind) veranlassten, ihm das Amt des Reichskanzlers zu übergeben.

Diese Position benutzte er dann, in knapp 13 Jahren Deutschland auf nie dagewesene Weise ins Elend zu führen.

Meinen die „ Reichsbürger“ dieses Reich, das den Zweiten Weltkrieg begann? Denkt niemand an seine Folgen?

Die 21 Abiturienten des Bopparder Gymnasiums (heute Kant-Gymnasium) Jahrgang 1939 werden gleich nach dem Abitur in die Wehrmacht eingegliedert, einer von ihnen hatte „Glück“, vom Wüstenkrieg zur Ostfront, Ungarn, Italien und bis zur Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft 1950 zu überleben. Sieben von ihnen (ein Drittel!) sind im Krieg geblieben (Ritter, Walter: Verlorene Jahre (1939-1949). Mit dem Abitur ins Leben? Aachen: Helios 2017).

Dieser Zweite Weltkrieg wurde vor allem im Osten mit unglaublicher Grausamkeit geführt. So mit dem „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941 nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges: Alle Funktionsträger der Sowjetarmee sind bei Gefangennahme gleich zu erschießen, Auflösung der Gettos in den polnischen und westrussischen Städten, Ermordung der Juden oder Transport in Arbeits-Vernichtungslager. Gleichzeitig werden in den deutschen Städten Judenfamilien ausgewiesen und abtransportiert.

Stellen „Reichsbürger“ sich vor, was es bedeutet, wenn die Nachbarfamilie die Aufforderung erhält, binnen weniger Stunden die Wohnung zu verlassen, vorher das Herd- oder Ofenfeuer zu löschen und sich mit nur einem Koffer je Person zum Abtransport mit ungewissem Ziel auf dem Marktplatz einzufinden?
Meinen sie dieses Reich, das so vorgeht?

Friedrich Kellner, als SPD-Mann in Laubach/Hessen nur mit Mühe den Verfolgungen der Nationalsozialisten entgehend, legte mit Kriegsbeginn ein Tagebuch an. Er nutzte die „ureigenste Waffe“ des NS-Regimes, die Propaganda und schnitt „aus Tages- und Wochenzeitungen Artikel aus, klebte sie in sein Tagebuch und entlarvte das hohle Geschwätz der führenden Nazis oder deren lokaler Vertreter durch seine Kommentare“.
Immer wieder zeigt er, „wie diese Giftspritzen wirkten und wie sie doch nicht hätten wirken müssen, hätte man nur genau hingeschaut.“
(Kellner, Friedrich: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939 – 1945. Göttingen 2011).

Als im September 1941 in einem Zeitungsartikel davon „die Rede ist, dass 65 000 Juden in Transporten abgeschoben‘ würden, schreibt Kellner ein einfaches ‘Wohin?‘ an den Rand. Kellner „berichtet auch offen darüber, was ein von der Front heimkehrender Soldat in seiner oberhessischen Provinz von den Gräueltaten und den Massenmorden im Osten erzählt – und zeigt, wie weit und wie früh solches Wissen letztlich verbreitet war.“ (Vorwort S. 10)

Es ist jenes „Reich“, in dem es für einen Apotheker gefährlich sein konnte, wenn er das zum Suizid geeignete Schlafmittel Veronal ohne Verschreibung an Juden abgab, und wo Schülerinnen, die zum Arbeitseinsatz nach Wien geschickt werden, sich darüber wundern, wieso denn die Wohnungen mit allen Habseligkeiten, nur das Feuer im Herd gelöscht, zum Ausräumen durch die Behörden offen stehen.

Meinen die Reichsbürger dieses Reich? War dieses Reich eines von „Helden“?

Ein Reich, das sich nur verteidigen konnte mit Konzentrationslagern, Folter, Todesstrafe für die Opposition, mit der Ermordung von Behinderten? Meinen sie dieses Reich, auf das Menschen von heute mit ungläubigem Staunen blicken, wenn sie von den Grotesken dieser Hitler-Zeit hören: Wie konnte man Menschen, Intellektuelle ebenso wie selbstbewusste Beamte, Arbeiter und Bauern, dazu bringen, mit erhobenem Arm „Heil Hitler“ zu rufen oder die gleiche seltsame Formel in jeder Briefunterschrift zu verwenden?

Die Antwort darauf ist einfach, wenn man sich daran erinnert, was Terror bedeutet.

Er ist mit den im Zusammenleben üblichen Mitteln wie Gespräch, Diskussion, Fragen, Verweigerung nicht zu begegnen. Das Individuum ist hoffnungslos dem Terror unterlegen, wenn es keine staatliche Ordnung gibt, in der die Würde des Menschen unverletzlich ist, und in der die Bürger vor Gewalt durch andere geschützt sind.

„Reichsbürger“ muss man fragen, ob sie wirklich genau hingeschaut haben auf dieses „Reich“, auf das sie sich beziehen.

Genau hinschauen muss man auch bei Verschwörungstheorien: Wenn man Schlagwörter (Schlag-Tot-Wörter) benutzt und nicht genauer hinschaut, kann man nicht angemessen reagieren.

Wer denkt schon daran, dass der berühmte Spruch „Wir schaffen das“ auch mit der Betonung auf Wir verstanden werden soll: Die damals aus Not, Bürgerkrieg und Verfolgung flüchtenden vielen Menschen hätten in den Balkanländern überhaupt nicht versorgt werden können und hätten in diesen Ländern Chaos und Zusammenbruch der ohnehin schwachen staatlichen Ordnung bedeutet. Ein reiches Land mit immer geringer werdender Bevölkerung wie Deutschland konnte das schaffen (und hat es geschafft).

Oder genauer hinschauen sollte man auch, wenn der Klimawandel geleugnet wird: Jeder Weinbauer kann erzählen, wie sich in seinem Weinberg die Verhältnisse geändert haben.

Oder wenn der menschliche Einfluss auf das Klima geleugnet wird, sollte man auch genau hinschauen auf die Bilder aus dem Weltall, auf denen deutlich erkennbar wird, wie sich der Lockdown auf die Luftschadstoff-Verteilung ausgewirkt hat. Ähnlich ist es mit den unterschiedlichen Ansteckungsraten und Todeszahlen bei Corona: Hört auf die Wissenschaft, fordert Greta Thunberg auf. Wer das nicht will, soll wenigstens zur Kenntnis nehmen, wie unterschiedlich die Zahlen in den verschiedenen europäischen Ländern sind, je nachdem wie die Regeln von Abstand, Hygiene und Maskentragen aussehen.

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