— Sturm auf das Kapitol, Kapp-Putsch, Heimat, Freiherr vom Stein, Mob, Thomas Mann, St. Goar — 7 min read
Aktuell Dienstag, 12. Januar 2021
„In der Gewalt von Mächten, die keinen Zweifel lassen, daß sie uns vernichten können, weil in uns selber etwas, das wir nicht kennen wollen, ihnen entgegenkommt.“ (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. Neuwied: Luchterhand 1979 S. 14)
„Wir halten diese Wahrheiten für offenbar und keines weiteren Beweises bedürftig: Daß alle Menschen gleich sind von Geburt, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, daß zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“
So steht es in der Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Gründerstaaten vom 4. Juli 1776. Dass Indianer und schwarze Sklaven damit (leider) nicht gemeint sind, war damals für die „weißen“ Gründer der Siedlerdemokratie kein Thema, ähnlich wie für deutsche „Großphilosophen“ wie Immanuel Kant und (später) Georg Friedrich Hegel.
In die auf der Unabhängigkeitserklärung beruhende Verfassung wurde das Prinzip der Gleichheit nach und nach auch auf die „roten“ ursprünglichen Einwohner, die Nachfahren der schwarzen Sklaven und alle legalen Einwanderer übertragen.
Man kann den Sturm auf das Kapitol vom 7. Januar 2021 für die größte Niederlage des demokratischen Gedankens in der Einwanderergesellschaft der USA halten: Gewaltbereite Gruppen von Weißen besetzten das Symbol der immer als Vorbild bezeichneten US-Demokratie, um einen demokratischen Akt zu behindern. Über die Motive weiß ich zu wenig. Verleugneten sie die Wahlniederlage des von ihnen unterstützten Präsidenten, weil sie ihre materiellen und sozialen Privilegien als Weiße, eingeschlossen das Recht zum Tragen von Waffen, bedroht sahen? Hassten sie die Demokraten und andere Gegner von Trump, weil sie auf „fake news“ vertrauten und meinten, auch „Faktenchecks“ seien nur „alternative Wahrheiten“ und Meinungen, auf die man nichts geben müsse? Ich weiss einfach zu wenig. Auf jeden Fall war der Vorgang einmalig für die immer als Vorbild gepriesenen USA.
Es war etwas ganz anderes als die Aufstände in Deutschland und Europa im 19. Jahrhundert. Als im deutschen Kleinstaat Nassau im Jahr 1848 die Aufständischen, vor denen Fürst von Metternich aus dem Schloss Johannisberg gerade geflüchtet war, nach Wiesbaden vor das Schloss zogen, wollten sie die ihnen seit 1815 versprochenen demokratischen Rechte einfordern von ihrem Herzog Adolf von Nassau (nach ihm ist die Adolfseiche bei Bornich benannt). Sie ließen sich rasch beschwichtigen: Die Protestenergie reichte nicht aus, um ihre weiterreichenden Forderungen nach Demokratisierung durchzusetzen. Der preußische Landrat Heuberger in St. Goar hat zwar 1846 dem autoritären preußischen Regime gegenüber den Freiheitsdichter Freiligrath in Schutz genommen, aber das undemokratische Regime blieb mit dem militärischen Sieg über die 1848er Revolution erhalten.
Prägend für weite Schichten in Deutschland wurden mit der Gründung des expansionistischen wilhelminischen Kaiserreiches nach dem Sieg über Frankreich 1871 Nationalismus und Patriotismus. Opposition dagegen wurde unterdrückt durch das „Sozialistengesetz“ von 1878-1890, mit dem die Sozialdemokratie verboten und viele ihrer Vertreter ausgewiesen wurden. Patriotische „Flottenpropaganda“ für die Aufrüstung zur See und die Förderung des Kolonialismus unter dem Motto „Deutschland braucht einen Platz an der Sonne“, dann die „Dolchstoßlegende“, mit der wider besseres Wissen behauptet wurde, dem angeblich siegreichen kaiserlichen Heer des Ersten Weltkrieges sei mit der Revolution von 1918 die „Heimat“ in den Rücken gefallen, dann die Polemik gegen die Versailler Friedensverträge: All das trug dazu bei, die nationalistisch-patriotische Haltung in der Mehrheit der Bevölkerung zu verankern und der Propaganda der Nazis freien Lauf zu lassen. Der militärische Kapp-Putsch von 1920 brach zwar nach 100 Stunden zusammen, weil Verwaltung, Beamte und die Bevölkerung nicht mitmachten.
Der militärische Kapp-Putsch von 1920 brach zwar nach 100 Stunden zusammen, weil Verwaltung, Beamte und die Bevölkerung nicht mitmachten.
Den meisten musste klar sein, dass die Nationalsozialisten Krieg planten und militante Antisemiten waren. Aber es gab auch in unserer Region keinen ernsthaften Widerstand, nachdem Reichspräsident Hindenburg 1933 ohne Zwang Hitler zum Reichskanzler beförderte und die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten ermöglichte, obwohl sie in den letzten freien Wahlen in Deutschland in der Minderheit blieben.
Im preußischen Nassau widersetzten eine ganze Reihe von Katholiken, vor allem auch protestantischen Pfarrern aus der „Bekennenden Kirche“ sich dem Zwang zum Ausschluss getaufter Juden aus dem Gottesdienst und anderen Zumutungen, aber im Übrigen verlief die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten in unserem weitgehend preußischen Gebiet relativ reibungslos.
Es gab auch keinen lauten Protest gegen das bereits am 14. Juni 1933 (nach dem Reichstagsbrand und dem Ausschluss der Opposition aus dem Parlament) erlassene „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ zwecks „Reinigung“ von „unerwünschten fremdrassigen Elementen“ (ein Vorbild für die Fremdenfeinde in der AfD?)
Warum? Die patriotisch-nationalistische „Vernebelung der Gehirne“ und der latente (oft auch offene) Antisemitismus sorgten dafür.
Vor allem aber war es der Terror gegen Andersdenkende. Physischer Gewalt, oder der Androhung von Gewalt und Nachteilen für sich selbst und die Familie widerstehen die wenigsten, und wenn man einmal in der Umgebung erlebt hat, was denen geschieht, die sich verweigern, schwindet der Mut noch einmal radikal (jeder mag sich fragen: Wie würde ich mich verhalten?).
Terror ist unausweichlich und mit den im Zusammenleben üblichen Mitteln wie Diskussion, Fragen, Verweigerung nicht zu begegnen. Dem Terror der Vielen ist das vereinzelte Individuum hoffnungslos unterlegen.
Obwohl alles anders ist, muss ich bei der Erstürmung des Kapitols in Washington und den Ereignissen im Januar 2021 an die Nationalsozialisten von 1933 und die rechten Demonstrationen und „Querdenker“
im Deutschland von 2020 denken.
Mit der hilflosen Formel, die brutalen Eindringlinge ins Kapitol und die rechten Demonstranten hierzulande gehörten zum „Mob“,
verbergen die Zeitgenossen ihre Schwierigkeiten, das Geschehen zu verstehen (Übrigens: Ich hoffe, die „Dienste“ der Staatsschützer bei uns beobachten genau, wie in den unsozialen Teilen der sogenannten „Sozialen Medien“ die Ereignisse in den USA kommentiert werden, um einzuschätzen, was hier passieren kann.).
In den USA beobachten wir die Zerstörung der Gleichheits-Versprechungen von solchen, die sich für Gleicher halten als andere und denen von Trump die Sicherung ihrer Privilegien versprochen wurde.
Populäre Vorstellungen von Rassismus (der nie bewiesenen Ungleichheit von „Rassen“), Sozialdarwinismus (dem in der Tierwelt überhaupt nicht überall geltenden „Recht des Stärkeren“), Eugenik (dem Züchten des besseren Menschen – nach welchen Merkmalen?), Herrschaft der Eliten (als dem der angeblich Besseren), Bedeutung von Führerpersönlichkeiten (als vermuteten geeignetsten Politikern, denen man sich gern unterwirft) sind als Gegenposition zur Gleichheitsforderung seit der Aufklärung in Europa immer verborgen vorhanden und sie können, wie alle Vorurteile, leicht geweckt werden.
Schwierig ist das allenfalls in einer Gesellschaft, in der alle Milieus weitgehend einig sind, dass solche Haltungen nicht geeignet sind, jenes Gemeinwohl zu fördern,
das Freiherr vom Stein sichern wollte.
Menschen sind begeisterungsfähig und engagieren sich, und diese Fähigkeit ist in der Regel nicht linear mit Wissen, Verantwortung und Aufgeklärtheit gekoppelt.
Sie ist unverzichtbar in der Liebe wie in der Kunst, im Sport, im gemeinschaftlichen Leben.
Wofür sich Menschen motivieren und begeistern lassen,
hängt ab von dem ganzem Werte-Umfeld, in dem sie leben. Von „Mob“ oder „Lumpenproletariat“ zu sprechen,
wenn es um sozial und politisch unwillkommenes Engagement geht, hilft nicht weiter.
Eindrucksvoll ist, wie selbstkritisch Thomas Mann 1939 gleichzeitig Abscheu und Faszination bezogen auf Adolf Hitler empfindet. Ihn „fesselnd“ zu finden, von ihm „fasziniert“ zu sein, „kommt schon moralischer Kasteiung nahe.“ Und selbst das wird „unmoralisch“, da es „den Haß zu kurz kommen läßt, der hier von jedem gefordert ist, dem das Schicksal der Gesittung auf irgendeine Weise auf das Gewissen gelegt ist.“
Und direkt auf Trump kann man übertragen, wenn er über Hitler schreibt: „Der Bursche ist eine Katastrophe;
das ist kein Grund, ihn als Charakter nicht interessant zu finden.“
Er hat „eine unsäglich inferiore, aber massenwirksame Beredsamkeit“,
„man kann unmöglich umhin, der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen.“.
Thomas Mann erkennt in ihm „eine Erscheinungsform des Künstlertums“, und daher ist Hitler für ihn
eine Art von Bruder, aber eine „reichlich peinliche Verwandtschaft.“
Und dann meint er, zum Nachdenken auffordernd: „Es ist nicht ausschließlich ärgerlich, es ist auch eine beruhigende Erfahrung, daß trotz aller Erkenntnis, Aufklärung, Analyse, allen Fortschritten des Wissens vom Menschen – an Wirkung, Geschehen, eindrucksvollster Projektion des Unbewußten in die Realität jederzeit alles möglich bleibt.“
So sehr Hitler auch eine „Erscheinungsform des Künstlertums“ und des „Genies“ ist, so wenig will Thomas Mann durch ihn die Kunst als „Mittlertum zwischen Geist und Leben“, das Genie als „großen Mann“ der „Verhunzung“ überlassen: Er will sich nicht damit zufrieden geben, dass es Hitler und „unserer Zeit gelang (...), so vieles zu verhunzen: Das Nationale, den Sozialismus – den Mythos, die Lebensphilosophie, das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die Revolution und was nicht noch alles.“ Darauf zu verzichten ist genauso unwillkommen wie das Engagement zu vergessen, auch wenn es dem kalkulierenden Verstand nicht entspricht (Thomas Mann: Hitler in uns <ursprünglich: „Bruder Hitler“>, 1939)
Die Philosophin Hannah Arendt sieht einen Grund für den Erfolg der faschistischen Bewegungen in der Entfremdung durch „Weltlosigkeit“. Unter „Welt“ versteht sie jene Welt, die jemand mit anderen teilt und „die aus Menschen, Dingen, vor allem aber Wertungen und Bedeutungen besteht, die ihm erlauben, sich zu entwickeln“, eine „Welt“, die „durch die moderne Technik und die Atomisierung der Gesellschaft in der Massendemokratie zerstört wird.“
Das ist der Punkt, an dem man über „Heimat“ nachdenken sollte: „Der moderne Mensch ist nicht primär sich selbst entfremdet, sondern heimatlos in eine Wirklichkeit gestellt, die keine ‚Welt‘ für ihn ist. Und gerade deshalb … wird der Bürger moderner Massendemokratien anfällig für die totalitären Ideologien, die ihm die Errichtung einer neuen Welt versprechen.“ Damit fragt sich, wo und wie „Welt“ durch welche Bindungen wieder hergestellt wird.
Was im Januar 2021 in Washington im „Kapitol“ sich abspielte, war eine Variante, eine Ausprägung von Haltungen, die in verschiedenster Gestalt auftreten können, aber wie ein Drogen- oder sonstiger Rausch unter „geordneten“ Verhältnissen von den Individuen und von ihrer sozialen Gemeinschaft unter Kontrolle gehalten werden können. „Du kriegst nichts mehr“, konnte ich mit Zustimmung der anderen einem deutlich angetrunkenen jungen Mann sagen, als ich einst bei der dörflichen Kerb (Kirchweih) an der Biertheke beim Ausschank half.
Freud will die Aufhebung von Triebhemmungen in der „Masse“ auf die libidinöse Bindung des Individuums
an einen Führer und der Individuen untereinander zurückführen.
Der Psychologe Wilhelm Reich versucht in der „Massenpsychologie des Faschismus“ die sozialpsychologischen Voraussetzungen für die Massenbasis des Faschismus zu erklären. Er schreibt: „In den faschistischen Massen besteht eine extreme libidinöse Bindung an den Führer, der gleichzeitig die Nation verkörpert. Die kleinbürgerlichen Anhänger des Faschismus gewinnen ihr Selbstgefühl, das aufgrund der sexuell repressiven Erziehung und der ökonomischen Notlage ihrer Schicht zerstört wurde, in der Identifikation mit dem Führer, der Nation und der faschistischen Gewalt wieder.
Bei den ‚linken‘ Massen ist die Identifikation mit dem Führer weit weniger stark“, die Solidarität mit der Gruppe wichtiger. Übrigens: Trumps „Brave Boys“ verpflichten sich, nur einmal im Monat Selbstbefriedigung zu betreiben.
Es genügt eben nicht, mit den Methoden der Wissenschaft unbewiesene Thesen von Identitären, Reichsbürgern oder Corona-Leugnern und -Leugnerinnen zurückzuweisen. Handeln, Denken und Fühlen der Menschen sind viel komplexer, als dass sie sich mit wenigen Worten erklären und verändern ließen. Blickdichte Parallelwelten, Echokammern haben sehr starke Wände.
© Dieter Kramer Dienstag, 12. Januar 2021 kramer.doerscheid@web.de