— Scholastik, Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion (1691–1768), Aufklärung, Pestalozzi, Pfarrer Horst Symanowski (1911–2009), UNESCO, Kulturanthropologie — 3 min read
Wenn man beim Wandern auf markierten Wegen nicht weiß, ob man auf dem richtigen Weg ist, geht man zurück bis zur letzten Markierung und sucht von da aus weiter, wo die nächste Markierung sein kann. Und wenn man sie nicht findet und weitergehen gefährlich scheint, bricht man ab, verabschiedet sich stilgerecht vom Wanderweg und geht nachhause. Ähnlich geht die frühneuzeitliche Scholastik bei Diskussionen vor. Wenn Streit droht, geht man zurück zu dem Punkt, wo die Unterschiede erkennbar werden, dann versucht man die Unterschiede zu formulieren und zu klären, wie und ob es weitergehen soll, gegebenenfalls kann man auch den Stand der Diskussion festhalten und eine neue Weinflasche öffnen.
So geht die kirchliche Scholastik seit dem Mittelalter in der Diskussionskultur vor. Manche Diskussionen würden an Wert gewinnen, wenn man sich wechselseitig immer begrifflich vergewissern würde, worum es eigentlich geht und an welchen Stellen im Diskussionsverlauf die Unterschiede erkennbar werden. Das ist mühsam und kostet Zeit, kann aber vielleicht manche Missverständnisse reduzieren.
Da auch in der katholischen Kirche immer Menschen wie du und ich tätig waren, kann man dort immer wieder auf unkonventionelle, bis in die Gegenwart interessante Personen stoßen. So einer ist Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion (1691–1768), Großhofmeister am kurfürstlichen Bischofshof zu Mainz. (Wikipedia; Aufklärung 1974, 588) In seinem Amt war er für zahlreiche, von der Aufklärung inspirierte Reformen im kurfürstlichen Mainz verantwortlich. Er führte das für alle gültige allgemeine Landrecht ein, mit dem manche Ständevorrechte beseitigt wurden, ebenso Landstände-Vertretungen (die waren anschlussfähig an spätere republikanisch-demokratische Formen und spielten deswegen beim Wiener Kongress 1815 noch eine Rolle). Er förderte Handelsmessen und Märkte. In heftigen Auseinandersetzungen mit dem Klerus in Mainz verwirklichte er Ideen der Aufklärung und trat dem älteren religiösen Fanatismus entgegen. Graf Stadion hat so den mittelrheinischen Katholizismus mit den Ideen der Aufklärung vertraut gemacht und ihm damit Eier ins Nest gelegt, mit deren geschlüpften Jungen die katholische Kirche bis weit ins 19. Jahrhundert zu schaffen hatte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in der Nassauischen Schulpolitik nach 1815 die Anregung, für die neue Simultanschule (mit Katholiken und Protestanen in einer Klasse) sich durch einen Besuch bei Pestalozzi in der Schweiz inspirieren zu lassen, vom einem Priester und späteren Bischof von Limburg kam.
Eine neuere interessante Figur ist der protestantische Pfarrer Horst Symanowski (1911–2009), zur „ Bekennenden Kirche“ der protestantischen NS-Gegner gehörend. Er suchte nach dem Vorbild der französischen Industriepriester mit der Gossner Mission in den 1950er Jahren die Verbindung zwischen der Industriearbeiterschaft und der evangelischen Kirche herzustellen und arbeitete für sechs Monate in einem Zementwerk in Mainz-Kostheim als Hilfsarbeiter und Arbeiterpfarrer. Dort setzte er sich für die Mitbestimmung der Arbeiter in ihrem Betrieb ein und wurde daraufhin von dem Unternehmen entlassen. Das von ihm geleitete Studentenheim in Mainz-Kastel öffnete er für Lehrlinge und machte es 1955 zum „Seminar für kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft“. (Wikipedia) Von dort aus vermittelte er Theologiestudenten in Industriepraktika (einer von ihnen arbeitete bei der ADAM OPEL AG in Rüsselsheim; eine Abschrift seines Berichtes befindet sich im Rüsselsheimer Städtischen Museum).
Die Gossner Mission hat mich, als ich zwei Semester evangelische Theologie in Mainz studierte, auch interessiert, aber ich wechselte das Studium. Germanistik und Geschichte wurden meine Themen.
Für Symanowski war „Innere Mission“ der evangelischen Kirche eine Hinführung der arbeitenden Menschen zu den Angeboten der Kirche bei gleichzeitiger Anerkennung der eigenen Interessen und Lebensweise der Arbeitenden. Und sie war verbunden mit Versuchen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse (später, in Zeiten der „Gastarbeiter“, hat das katholische Bistum Limburg solche Ansätze aufgegriffen).
Die britische „Heilsarmee“ verstand ihren Missionierungsauftrag im 19. Jahrhundert viel enger. Wie Kulturmissionare sah sie ihre Aufgabe in erster Linie nur in der Erweiterung des Kirchenpublikums. Sie präsentierte bei ihren (wöchentlichen?) Umzügen die neu für die Kirche gewonnen Menschen stolz in vorderster Reihe.
„Mission“, nämlich Interesse wecken für die Angebote der Kirche, wird bei Symanowski auf eine interessante Weise verstanden: Sie ist nicht punktuell bezogen auf die Übernahme bestimmter ethischer, moralischer (oder ästhetisch-kultureller) Standards und Gewohnheiten, sondern als prägender Bestandteil des ganzen Lebens, dessen Rahmenbedingungen mitgestaltet werden müssen. Das erinnert an den Kulturbegriff der UNESCO: entscheidend ist nicht (zugespitzt formuliert) der Kirchenbesuch wie bei der Heilsarmee oder die Übernahme spezieller Standards des kulturellen Kapitals, sondern eine angestrebte neue Qualität des ganzen Lebens, Alltag und religiöse kulturele) Haltung eingeschlossen und ausgehend von den realen materiellen Lebensbedingungen, ferner die Kenntnisnahme der daraus entwickelten spezifischen, sich von anderen mehr oder wenig deutlich unterscheidenden Lebensformen.
Das ist anschließbar an den Kulturbegriff der UNESCO, wie er, beeinflusst von Kulturanthropologie, Ethnologie und den sozialwissenschaftlichen Cultural Studies, entwickelt wurde und bezogen ist auf die gesamte Lebensweise: In diesem Sinne betont der Kulturanthropologe Marshall Sahlins, dass Kultur jeder Lebensweise die ihr besonderen Merkmale verleiht, und zwar mit Hilfe eines nur ihr eigenen symbolischen Schemas, eingeschlossen die ästhetisch-kulturellen Ausdrucksformen von Literatur, Musik, bildender Kunst und so weiter, wie sie in der jeweiligen Lebensweise entstanden sind und mit Kennerschaft weiter entwickelt werden. Darin eingeschlossen ist die Perspektive „Wie wir leben wollen“, bezogen auf die handlungsleitenden Standards und Werte der in der jeweiligen Gemeinschaft lebenden Individuen.
Ein solcher Kulturbegriff ist interessant, wenn es um die „Kulturentwicklungsplanung“ einer Region geht.
© Dieter Kramer 31.07.2022