— Clausewitz, Putin, Ukraine — 4 min read
In dem Buch „Vom Kriege“ des klassischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz (1780-1831) sollten Putin oder seine hohen Militärs (auch diejenigen, die, vielleicht mit Hilfe der CIA, schon von den Ukrainern eliminiert wurden), gelernt haben, dass man vorher überlegen muss, wie man, egal wie es verläuft, aus welchem Schlamassel auch immer man wieder herauskommen kann. Im Ostblock wurde, vermute ich, Clausewitz häufiger gelesen als in den USA, denn dort wurde weder für den Irak, noch für Afghanistan über eine Exit-Option nachgedacht. In Ostberlin jedenfalls ist eine Clausewitz-Ausgabe im Militärverlag erschienen.
Die Geschichte kennt immer wieder überraschende Entwicklunge (Kontingenzen). Nicht vorhergesehen wurde: Der Aufstieg des Computers, die Wiedervereinigung, das Attentat auf das World Trade Center, die Finanzkrise, Trump, Brexit, und (nicht) zuletzt dieser Krieg. Man kann nicht auf überraschende Ereignisse hoffen, zumal ihre Folgen auch nicht vorhersagbar sind. Aber möglich sind sie.
Es gibt feine Risse im russischen System (Blätter 4/22, S. 90/91). Sie haben im Mai 2022 zugenommen: Lawrow mit seinem Hitler-Vergleich in Israel wird zurückgepfiffen, Belarus relativiert die atomare Drohung. Aber auf weitere Risse setzen kann man nicht.
Am unwahrscheinlichsten und am wenigsten wünschenswert ist, dass der Krieg so ausgeht wie Putin sich das vorstellt.
Mit irgendwelchen Vermittlern (Vatikan, Israel, Angela Merkel, Türkei) muss, da auf eine bedingungslose Kapitulation bei einer hochgerüsteten Atommacht nicht zu rechnen ist, in einer Phase der Ermüdung oder einer auf Ausweglosigkeit zusteuernden Entwicklung im Kriegsgeschehen ein gesichtswahrender Ausweg für Putin eröffnet werden.
Verhandlungen mit internationaler Unterstützung müssen zunächst humanitäre Erleichterungen, Rettungswege, Gefangenenaustausch, punktuelle, schließlich weiterreichende und dann das gesamte Kriegsgebiet umfassende Vereinbarungen treffen, die zu einem Waffenstillstand führen. Auf dem können dann Verhandlungen mit möglichst neutralen Vermittlern aufbauen.
Auf jeden Fall: Putin darf nicht siegen. Eine autoritäres System, basierend auf kernwaffengestützte erpresserische Gewalt, extraktivistisch und mit riesigen exzessiv konsumierenden superreichen Oligarchen, bietet keine Chancen für die Lösung gleich welcher globaler Probleme - Klimawandel, ökologische Zusammenbrüche, Artenschwund, Migrationsbewegungen, Imperiale Lebensweise, Nord-Süd-Konflikte usf. Einst träumten Ost und West von grenzenlosem Wachstum. Jetzt verspricht Putins Russland steigenden Wohlstand durch Öl und Gas trotz vermehrter Klimaschäden. Aber auch die in der Systemkonkurrenz 1990 „übriggebliebene“ ungezähmte kapitalistische Wachstumsgesellschaft mit ihren immer perfekteren Manipulationsmechanismen vermag keine unmittelbare schnelle Lösung für nicht eines der genannten Probleme zu liefern. Beide Teile der Welt gemeinsam müssen, getrieben von erkennbaren klimatischen Krisenerscheinungen der anderen deutlichen Krisen, sich zusammenraufen zu einer Zukunftsstrategie.
Man kann Vorkehrungen treffen gegen weitere Kriege, aber auch gegen Krisen der Lebenswelt. Für beides ähneln sie sich. Auf einem Höhepunkt der Coronakrise wurden nicht nur Bewegungseinschränkungen (wie bei der Ölkrise 1972) getroffen, sondern die Supermärkte bereiteten sich auch auf die Kontingentierung von Lebensmitteln vor.
Nach der Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal haben Museologen in Deutschland Notfallkisten für ihre Museen zusammengestellt. Für kriegerische Ereignisse sind sie auch nützlich.
Mir ist in die Hände gefallen eine Broschüre von 1940: „Was tue ich im Ernstfall?“, Eine Aufklärungsschrift für das Deutsche Volk. Herausgegeben auf Veranlassung des Reichsführer SS und Chefs der Deutschen Polizei“. Da steht alles drin, nur auf ABC-Angriffe war man damals nicht so richtig vorbreitet. Vielleicht muss man entsprechende Broschüren jetzt schon einmal vorbreiten.
Ich möchte ein mögliches Angebot für Putin skizzieren: Unter Vermittlung von wem auch immer wird der Krieg in der Ukraine zu einem Waffenstillstand gebracht. Die dann folgenden Verhandlungen können lange dauern. Sie sollen auch Gelegenheit bieten, die deutlich gewordenen grundsätzlichen Fragen zu behandeln. Putin wirft dem Westen Europas vor, sich in die Abhängigkeit von den USA begeben zu haben. Aber nur, wenn Europa sich ohne den vollständigen Schutz der USA sicher fühlen kann, lässt sich diese Abhängigkeit mindern. Der Westen wirft Russland vor, seine Einflusssphäre vergrößern zu wollen. Diese Situation beinhaltet Konfliktpotenzial.
Zur gleichen Zeit ist die gesamte Lebenswelt in Ost, West, Nord und Süd bedroht durch nicht mehr kontrollierbares Wachstum, Ressourcenverknappung, ökologische Zusammenbrüche, Artenschwund, Trockenheiten, Waldbrände, Starkregen und Hochwasser. Auch für die Ressourcen- und Gerechtigeits-Probleme imperialer Lebensweise, Nord-Süd-Konflikte, für neu aufbrechende ethnische Konflikte, religiöse Fundamentalismen, Migrationsbewegungen und immer weniger kontrollierbare Waffenpotentiale bedarf es der ´Lösungsstrategien. So wie zur Erforschung der Erde eine immer noch zirkulierende internationale Raumstation von West und Ost gebildet wurde, so können für den Umgang mit manchen der genannten Themen gemeinsame Strukturen entstehen.
Und der Westen kann Putin signalisieren: Vielleicht gibt es trotz Marktwirtschaft unter demokratisch-freiheitlichen Strukturen auch hier Chancen für die Überwindung von aktuell drohenden Krisen. Da existieren immerhin Massenbewegungen für Klimaschutz und ökologische Wandel, von denen die Herrschenden und die Regierungen unter Druck gesetzt werden können.
Bundeskanzler Scholz sieht (29.04.2022) Europa in dieser Konstellation überlegen gegenüber China und Russland, wenn es um die Bewältigung von durch den Kapitalismus hervorgerufenen Problemen wie dem Klimawandel und dem Wachstumszwang geht. „Der Blick auf die enormen Umweltprobleme chinesischer Städte oder die mangelhafte Vorbereitung der russischen Wirtschaft aufs postfossile Zeitalter lassen Zweifel aufkommen“, ob diese besser mit den Problemen umgehen könnten als Demokratien. Dafür sei internationale Zusammenarbeit nötig, und die würden die Europäer bereits seit Jahrzehnten in der EU praktizieren. (29.04.2022)
Das muss unter Beweis gestellt werden. Sogar 2022 sind einige Weichen dafür bereits gestellt, trotz des Drucks durch den Ukraine-Krieg. Aber wirklicher sozialökologischer Wandel braucht noch viel Arbeit, wenn die Hoffnung auf Minderung des globalen Temperaturanstiegs und die Bewältigung seiner Folgen gestärkt werden soll. Ende April 2022 wird berichtet, dass in Teilen Indiens die Temperatur bereits über 40 Grad gestiegen ist. Wenn an die 50 Grad erreicht sind, kann der Körper mit seinen eigenen Mitteln sich nicht mehr auf eine Betriebstemperatur von 36, 37 Grad abkühlen. Menschliches Leben wird dort unmöglich, wo diese Temperaturen häufiger erreicht werden. (Saleem, Mome: Gletscherschmelze und Monsun. Pakistans Umgang mit den Konsequenzen des Klimawandels. In: Iz3w 390 Mai/Juni 2022, 27-29)
Krieg ist eine Sache, Klimawandel eine andere: Beide verursachen außerordentliche Schäden, Migrationsbewegungen, Not und Elend Ist da nicht Zusammenarbeit interessanter? Die Internationale Raumstation zirkuliert noch.
© Dieter Kramer 14.05.2022
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