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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Die Feinde schießen nicht, also schießen wir auch nicht.

Bismarck, Nassau, Preußen, Artur Schnitzler, Wiesbaden, Kaub4 min read

2020 konnte man die gar nicht so lustige Geschichte lesen, dass im umstrittenen chinesisch-indischen Grenzgebiet im Himalaya Soldaten, die vertragsgemäß unbewaffnet waren, mit Steinen, Knüppeln und Fäusten aufeinander losgingen – nicht ungefährlich, es gab auch Tote, und es hätte sein können, dass daraus ein Grenzkrieg zwischen Atommächten entsteht.

1866 zettelte Bismarck den Krieg von Preußen gegen Österreich und mit ihm verbündete west- und süddeutsche Staaten an, um mit „Blut und Eisen“ die Vorherrschaft Preußens in Deutschland durchzusetzen.

Das Herzogtum Nassau und Kurhessen (Hessen-Kassel) waren damals mit Österreich verbündet.
Nach der Kriegserklärung stieß am 17. Juni 1866 eine Kurhessen-Kompagnie „in Biebrich mit einer preußischen Abteilung zusammen.
Aber es wurde nicht gefeuert, ‚weil der Gegner auch nicht feuerte.‘“ (Geschichte des Füsilier-Regiments von Gersdorff (Kurhessisches) Nr. 80 und seines Stamm-Regiments des Kurhessischen Leibgarde-Regiments von 1631 bis 1913 (Friedrich von Lettow-Vorbeck/ Dechend) Marburg i.H.: Elwert 1913, S. 76)

Die Preußen hatten auch danach kein großes Interesse an Streit mit den Nassauern und Kurhessen, denn ihnen ging es in diesem Teil des Kriegsgeschehens in erster Linie darum, die Verbindung dieser Truppen mit den österreichischen Truppen zu verhindern. Nach einer weiteren kurzen Begegnung zogen sich die Preußen zurück.

Nach dem Sieg der Preußen über Österreich wurden die nassauische und kurhessische Truppe aufgelöst, ihre Offiziere in die Preußische Armee übernommen.

Da erst setzten die Schwierigkeiten ein, denn Offiziere sind in dieser Zeit, gleich welcher Armee sie angehören, mit ihrem Ehrenkodex als Berufssoldaten etwas Besonderes. Sie können zwar in jeder Armee kämpfen, sind aber für Anderes kaum geeignet. Die „Offiziersehre“ in der einstigen Österreichischen Armee ging so weit, dass ein Offizier, der seinem Vater auf dem bäuerlichen Hof beim Mistladen half und dabei gesehen wurde, deswegen entlassen wurde. Das erwähnt Peter Rosegger in seinem Roman „Erdsegen“. Und der österreichische Autor Arthur Schnitzler schildert uns eindrucksvolle Geschichten von den schlimmen Auswirkungen dieses Ehrenkodex der Armee in Österreich: In einer Novelle hat ein Bürgerlicher beim Gerangel an der Garderobe des Theaters einem Offizier seinen Säbel genommen – die schlimmste Schmach, die einem solchen Ausnahme-Menschen wie einem Offizier zustoßen kann. Jener geht nicht in sein Quartier, rechnet mit sich und der Welt ab und fragt sich, wie wohl seine Angehörigen darauf reagieren werden, wenn er sich wegen dieser Schmach notwendigerweise erschießen muss. Erst als er nach einer qualvollen Nacht erfährt, dass dieser Bürgerliche in der gleichen Nacht einen Herzinfarkt hat, ist er gerettet. Der Ehrenkodex preußischer und Nassauischer Offiziere ist nicht weniger streng, wenn 1866 anscheinend auch weniger harte Konflikte daraus resultieren.

Aber Probleme gibt es doch. Nach der Niederlage von 1866 werden die kurhessischen Truppen von preußischen Offizieren übernommen.

Ähnlich wie der Übernahme der NVA (Nationalen Volksarmee) der DDR 1990 muss vieles geregelt werden, um „die Verschmelzung des Offizierkorps in dem neuen Regiment so rasch wie möglich“ zu bewerkstelligen. (S. 77) Es könnte ja bald ein neuer Krieg etwa mit Frankreich entstehen.

Die Offiziere werden „mit demselben Patente eingestellt, welches sie in der kurhessischen Armee gehabt hatten“ und auch noch rasch befördert. (S. 78) Die Integration der preußischen Offiziere war schwierig.

In Garnisonen wie Wiesbaden und Biebrich haben sie in der Nachbarschaft der der reichen Kurgäste und der Spielbank „damals den raffiniertesten Luxus der Welt aus erster oder wenigstens zweiter Hand“ geboten bekommen. Dort wurde „mit den Leidenschaften der Menschen bald da, bald dort“ gespielt und „so manches Glück beim einzelnen oder auch bei ganzen Familien“ zerstört. Den Offizieren des Regiment wurde empfohlen, „jene altpreußischen Gesinnungen“, die „Einfachheit und Ehrenhaftigkeit trotz aller Verführungen zu wahren und doch auch nicht den echten Soldatenhumor zu verlieren.“ (S. 78) Die kurhessischen Offiziere des ehemaligen kurhessischen Leib-Garde-Regiments, offiziell von ihrem Eid auf den Kurfürst Friedrich Wilhelm entbunden, hielten sich fast durchgehends außerdienstlich in einer Reserve, die nur Schritt für Schritt zu überwinden war.

Erst die glückliche Eingebung einzelner konnte das Eis dieser Zurückhaltung brechen. Die preußischen Offiziere des I. Bataillons (Wiesbaden) empfingen ihre früher kurhessischen Kameraden an dem Geburtstage ihres ehemaligen Landesherren am 20. August 1867 mit einer Bowle und baten, mit ihnen auf das Wohl dieses Fürsten anstoßen zu können.“ Zur Erinnerung: Das war der übel beleumdete Landesherr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der wegen seiner Maitresse seine Mutter, eine Schwester des Preußischen Königs demütigend behandelt hatte und der ein erbitterten Kämpfer gegen Demokratie und Volkssouveränität war, s. die zweite Geschichte). Von einer Armee in der Demokratie, oder wenigstens im Rahmen der Verfassung war damals noch nicht die Rede, eher schon konnte sie gegen das Volk eingesetzt werden. Der „innigere Anschluß der einzelnen Offiziere aneinander“ wurde gefördert durch ein Fest zu Caub (Kaub): „Bereits im Sommer 1867 vereinigte sich das gesamte Offizierskorps zu einem in seinem ganzen Verlaufe sehr fröhlichen Feste in Caub a.Rh., und noch heutzutage 'um 1913' klären sich die Gesichter unserer ‚alten Herren‘ auf, wenn die Rede von dieser ersten Vereinigung und Verbrüderung der Offiziere des neuen Regiments Nr. 80 ist.“ (S. 79) Es ist immer nur von den kurhessischen Offizieren die Rede, auch wenn sich Vieles im Nassauischen Biebrich und Wiesbaden abspielt.

Die Naussauischen Truppen wurden schon am 7. August 1866 in Süddeutschland entlassen und ihres Eides an ihren Landesherren Adolf von Nassau entbunden. Einzeln gliederten sich ihre Offiziere in die Preußische Armee ein.

Frustriert waren die Preußischen Offiziere in Wiesbaden, denn an „ein, wie sonst üblich mit gewisser Behaglichkeit ausgestattetes Kasino war anfangs nicht zu denken.“

Im Hinterzimmer des Restaurants der betagten Witwe Engel fanden sie ein „bescheidenes, aber freundliches Unterkommen“ (S. 80)

Vom Offizierkorps, das in der Geselligkeit „nur als geschlossenes Ganzes“ auftrat, konnte man „und mit Stolz … sagen, daß es trotz der Versuchungen der Garnison und des öffentlichen Spieles bei sich nicht eine gescheiterte Existenz zu beklagen hatte.“ (S. 81). Dass man dies besonders betonen muss, lässt schlimme Befürchtungen vermuten. Der russische Schriftsteller Dostojewski hat in diesen Jahren den ganzen Schmuck seiner reichen Frau in Spielbanken in Wiesbaden und Baden-Baden verspielt und ihr immer wieder versichert, er stünde gerade vor einer besonderen Glückssträhne.

Das ist die Geschichte der Kurhessischen Offiziere, nachdem sie im Krieg gegen die Preußen verloren hatten (bei dem es übrigens für sie fast keine Opfer gab, nur die Österreicher hatten in der Niederlage von Königsgrätz/Sadowa am 3. Juli 1866 schwere Verluste). (Kaufmann S. 533)

Meistens schützt das mörderische System des Krieges seine privilegierten Offiziere. Erst unter Hitler wurden im 2. Weltkrieg mit dem „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941 nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges alle Funktionsträger der Sowjetarmee gleich erschossen. Weil das den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg wiedersprach, gab es Bedenken, aber die wurden zurückgewiesen, denn:

„Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung.“

Erst weil man fürchtete, solches Vorgehen würde Angehörige der Sowjetarmee vom Überläufen abhalten, wurden Veränderungen möglich.

Die Brutalität des Krieges findet im frühen 21. Jahrhundert neue Höhepunkte in der Praxis der islamischen Gotteskrieger. Kriegsführen hat sich geändert. Ob das dazu führt, dass man eher davor zurückschreckt?

Aber schon Alfred Nobel hat gemeint, das von ihm erfundene Dynamit sei so schlimm, dass man keine Kriege mehr führen könne. Darauf jedoch nicht vertrauend, hat er den Friedensnobelpreis gestiftet.

Bislang hat seit den fünfziger Jahren die Existenz von Atomwaffen bei allen potenziellen großen Kriegsmächten den Ausbruch von großen Kriegen verhindert.

Wenn die anderen nicht schießen, schießen wir auch nicht.

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