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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Wirtschaftsflüchtlinge: Austauschbare Traumziele Amerika/Europa

Wirtschaftsflüchtlinge, Simmern, Goch, Friedrich der Große, Wiener Kongreß, gekrönte Häupter, Hessen, Amerika, Nauroth, Springen, Niederfischbach, Nassau4 min read

Südlich von Kleve liegt auf der Gocher Heide mitten in einem Gebiet, in dem niederdeutsches Platt als Mundart gesprochen wird, eine oberdeutsche Sprachinsel mit den Ortschaften Pfalzdorf, Louisendorf und Neulouisendorf. Die Dörfer stammen von Leuten aus den pfälzischen Oberämtern Simmern und Kreuznach, die auf dem Weg zur Auswanderung nach Amerika „von ihrem Plan abstehen mußten und hier zurückblieben“.
Die Gruppe reformierter und lutherischer Auswanderer, ihres Glaubens wegen und wegen der Hoffnung auf bessere materielle Verhältnisse ihre Heimat verlassend, wollte über den Rhein nach Rotterdam, um von dort nach Amerika überzusetzen. Die Niederländer verweigerten ihnen jedoch die Weiterreise über den Rhein nach Rotterdam. Im Herbst 1741 wies dann die Stadt Goch den kurpfälzischen Auswanderern einen Teil der Gocher Heide zur Ansiedlung zu. Die Siedler wandten sich später mit einer Bittschrift an den König Friedrich den Großen, der am 30. April 1743 die Kriegs- und Domänenkammer Kleve und den Magistrat der Stadt Goch anwies, die Siedler finanziell zu unterstützen.
Nach den ersten Erfolgen dieser Kolonisten auf der ehemals wenig fruchtbaren Gocher Heide förderten die preußischen Behörden weitere Ansiedlungen von Auswanderern.
Bis 1771 siedelten sich so neue Kolonisten an, die fast ausschließlich aus dem Hunsrück stammten.
Einige der Siedler zogen weiter bis ins damals ebenfalls preußische Ostfriesland, wo sie unter anderem die Ortschaften Plaggenburg und Pfalzdorf bei Aurich gründeten. (Wrede, Adam: Rheinische Volkskunde. 2. Verb. . verm. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer 1922; Frankfurt am Main: Weidlich Reprints 1979, und Wikipedia 2020)

Das ist eine interessante Geschichte, die hier nicht weiter verfolgt werden soll – die Dörfer liegen zu weit ab vom Mittelrhein.

Im 19. Jahrhundert gab es viele Deutsche, die wegen materieller Not und wegen der undemokratischen Verhältnisse in ihrer Heimat auswanderten:
Nachdem 1813/1814 mit breiter Unterstützung der Bevölkerung in den Kriegen gegen Napoleon die französische Vorherrschaft in Mitteleuropa beendet wurde, erhielten 1815 mit dem Wiener Kongress die meisten alten feudalen Herrscher („gekrönte Häupter“), angeblich „von Gottes Gnaden“, wieder ihre Territorien.
Die versprochenen demokratischen Verfassungen wurden nicht realisiert, die politische und wirtschaftliche Unterdrückung vor allem der ländlichen Bevölkerung verstärkte sich.

Heute wollen viele Menschen aus Afrika und anderen Teilen der Welt der Not und Unterdrückung in ihrer Heimat entfliehen und suchen den Weg nach dem wohlhabenden Europa.
Vor 150 bis 200 Jahren suchten viele Familien auch aus unserer Region der Not und Unfreiheit ihrer Heimat zu entfliehen und wanderten aus. Traumziel war Amerika, wie heute das reiche Europa Ziel ist.
Es gibt aus der näheren Umgebung Beispiele dafür, wie Menschen aus unserer Gegend zu Siedlern in Amerika wurden.
Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg von 1776 bis 1783 blieben viele Hessen in Amerika:
Sie hatten als an die Engländer „verkaufte“ Söldner gegen die amerikanischen Siedler kämpfen sollen.
Aber einige waren in Gefangenschaft geraten, andere desertierten. George Washington, der die amerikanischen Siedler im Kampf gegen die Kolonialpolitik der Engländer anführte, half dabei, gefangene und übergelaufene hessische Soldaten zu Ansiedlern in Amerika zu machen. (Herold, Rudolf: Katzenelnbogen und der Einrich. Einricher Heimatverein Katzenelnbogen 1974, S. 73)

Die nordamerikanischen Siedlerdemokratien waren bereit, Wirtschaftsflüchtlinge und politische Flüchtlinge aufzunehmen. Sie konnten helfen bei der „Erschließung“ des Landes (die lange Zeit verbunden war mit der Vertreibung und Ermordung der indianischen Bevölkerung und mit der Zerstörung der natürlichen Lebensräume).

Die unter Überalterung und Bevölkerungsschwund leidenden europäischen Staaten sind heute prinzipiell ebenfalls in der Lage, vielen Menschen aus armen und unfreien Regionen der übrigen Welt Chancen zu geben.

1826 übersiedelten acht Familien aus Nauroth und zehn aus Springen (Dörfer in der heutigen Gemeinde Heidenrod bei Bad Schwalbach) in die USA.

Besonders eindrucksvoll ist die Geschichte der Einwohner des nassauischen Dorfes Niederfischbach bei Katzenelnbogen. Mit großer Mehrheit beschlossen die Familien des Ortes 1853 in die USA auszuwandern und ihr Dorf aufzugeben. Wenige Zurückbleibende gingen in andere Dörfer. Alles lief in geordneten Bahnen ab: Die Stadt Katzenelnbogen erklärte sich bereit, die Waldungen von Niederfischbach zu übernehmen. Äcker und Häuser wurden samt Inventar versteigert, die Nassauische Verwaltung bewilligte die Auswanderung und strich Niederfischbach aus der Liste der Dörfer (heute gibt es nur noch Oberfischbach und Mittelfischbach). Lange Zeit wusste man nichts vom Schicksal dieser in die Gegend von Milwaukee ausgewanderten Nassauer.
Erst 1898 bekam die „Wiesbadener Presse“ Kontakt mit Philipp Diefenbach. Er war bei der Auswanderung 16 Jahre alt. In Briefen berichtet er über das Schicksal der Migranten und fragt nach Verwandten in der alten Heimat. Er schreibt auch über sein eigenes Leben Zwischen seinem 18. und 22. Lebensjahr (also in den 1860er Jahren) hat er, vermutet er, so hart gearbeitet, dass seine Gesundheit darunter gelitten hat.

"Ich habe in diesen drei Jahren meistens mit Indianern gewirtschaftet in der Wildnis. Wir haben, wenn das Wetter nicht zu schlecht war, Holz gehauen. Dieses ist an ein Wasser gefahren worden und zwar im Winter, als alles zugefroren war.
Sobald im Frühjahr das Eis wegging, sind diese Blöcke zusammengekoppelt worden, manchmal 1000 und noch mehr, dann sind 10-12 Mann auf dieses Floß und haben eine Bretterhütte aus diesen Blöcken gebaut und dann ging es bis nach St. Louis, ungefähr 500 Meilen (ungefähr 800 km). Das hat manchmal 3 – 4 Wochen gedauert."

Die Flößerei auf dem Rhein, die man bis in die 1950er Jahre beobachten konnte, lief ganz ähnlich ab. Da ging es in die Niederlande.
Für Philipp Diefenbach ging es den Mississippi hinab nach St. Louis, wo es Sägemühlen gab.
„Wir sind dann wieder mit dem Dampfschiff zurück. Es war eine harte und gefährliche Arbeit; aber was tuts Geld nicht.“ Und: „45-60 Dollar und Essen den Monat, aber oftmals Gefahr fürs Leben, vielmals das Fleisch roh gegessen und so fort. An Kirche hat man nicht gedacht, 1-2 mal gesehen bis St. Louis, sonst nur Wasser und Holz. Viel Geld geht für die Kleider drauf. Wir waren alle voller Läuse, die alten Kleider weggeworfen ins Wasser, neue gekauft.“ Von der Waldarbeit heißt es: „Wir hatten eine Hütte 30-40 Mann beisammen, … wir waren ungefähr vier Weiße unter diesen Rothäuten, aber sie waren immer gut uns gegenüber.“ (Herold 1974 S. 89S. 89) Ohne die Indianer war das Land nicht zu erschließen, und wenn sie sich nicht wehrten, waren sie als fleißige und billige Arbeiter willkommen. Die Auswanderer aus Niederfischbach fanden anscheinend alle ein gutes Auskommen in den USA. Philipp Diefenbach korrespondiert noch um 1910 mit seinem nassauischen Verwandten Studienrat Dr. Karl Lenz in Wiesbaden.

"Im Vollgefühl eines wohlhabenden Bürgers eines freiheitsstolzen Landes wies er den landläufigen Vorwurf der Goldgier als Auswanderungsgrund seiner Heimatgemeinde entrüstet zurück. Er betonte aber mit dem Selbstbewußtsein eines aus eigener Kraft hochgekommenen Farmers, daß er mit seiner Lage voll zufrieden sei."

© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de 17. Oktober 2020

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