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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

Der neue Trend: Die Modernisierung der Moderne

die zweite Moderne, die neue Koalition, Ökologie, Nachhaltigkeit, digitale Infrastruktur8 min read

Auch in der Region Mittelrhein blicken viele Menschen mit Interesse auf die Entstehung der neuen Regierung. Wenn es um Ökologie, Nachhaltigkeit, öffentlichen Nahverkehr, Eisenbahnen, digitale Infrastruktur, Landwirtschaft und regionale Wirtschaft geht, erhoffen viele sich neue Impulse. Vielleicht öffnet sich ein neues Zeitfenster für Reformen.

Die neue Koalition hat am 15. Oktober 2021 in einem „Sondierungsprogramm“ versprochen, Deutschland „nachhaltig modernisieren“ zu wollen, eine „umfassende Modernisierung“ zu beginnen, und sie will „Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen.“

Die Kinder, die heute zur Welt kommen, haben alle Chancen, das Jahr 2100 zu erleben. Was steht ihnen da bevor? Was haben die heute lebenden Generationen der Erwachsenen allein in den letzten fünfzig oder achtzig Jahren erlebt, und was geschieht in den kommenden Jahrzehnten? Wir können es uns nicht vorstellen.

Man kann den Wahlausgang als Stunde der „Zweiten Moderne“ oder der „Modernisierung der Moderne“ nehmen: Irgendwann, in den späten 1970ern spätestens, entstand in den tonangebenden Milieus der Städte der Eindruck, die „Moderne“ sei vorbei: In der Kunst wurde die „klassische Moderne“ entdeckt, auf die etwas anderes folgen musste. Das traf sich bei vielen mit dem Empfinden, dass angesichts des exponentiellen Wachstums des Ressourcenverbrauchs seit den 1950er Jahren es so nicht weitergehen könne.

In der Philosophie sprach man von der „Postmoderne“. Immer mehr zweifelten an der Allgültigkeit des Konzeptes einer „Moderne“, für die alle Probleme lösbar schienen. Der Philosoph Jürgen Habermas nannte dann die Moderne ein „unvollendetes Projekt“ (Habermas, Jürgen: Die Moderne ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990. Leipzig: Reclam 1990. Darin: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt (1980), S. 32-54) Andere forderten eine „Modernisierung der Moderne“. Der Soziologe Ulrich Beck versuchte die Moderne zu retten, indem er eine „Zweite Moderne“ konstruierte, in der (wie heute) neue Technologien und Strukturen die ungelösten Fragen der ersten Moderne aufgreifen sollten. Als auch daran gezweifelt wurde, erfand man die „Reflexive Moderne“: Die „Moderne“ sollte sich selbst neu erfinden und mit einem Neustart erfolgreich werden.

Da lässt sich heute ansetzen: Wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, dass die „Moderne“ der Gipfel der menschlichen Möglichkeiten und der Freiheit ist, dann kann man all das neu konfigurieren, zusammenstellen und konstruieren, was für eine lebenswerte und überlebensfähige Zukunft nötig ist. Wenn die neuen Koalitionäre eine „umfassende Modernisierung“ versprechen, dann kann das nur glaubhaft sein, wenn man die einst benannte Krise der Moderne und die heutige Ausprägung der Krise berücksichtigt. In dieser Krise muss die Politik sich beschäftigen mit Strategien für große Herausforderungen wie den Klimawandel, wo nicht nur neue Technologien helfen, schon gar nicht „Geoengeneering“ mit unkalkulierbaren Risiken für kommende Generationen, sondern unvermeidbar wohl auch Minuswachstum und globale Umverteilung nötig sind. Dafür muss es neue Ansätze geben.

Auch über „Freiheit“, eines der großen Versprechen der „Moderne“ muss neu nachgedacht werden. Jene Freiheit, in der niemand sich vorschreiben lassen muss, wie er zu leben hat, existiert nicht mehr in einer Marktwirtschaft, die nur noch die Freiheit des Konsumenten, nicht die des Menschen vor Augen hat. Zudem wird diese Freiheit durch Marketing, Influencer und extensiv entwickelte Werbung scheinbar nur unmerklich beeinflusst, in Wirklichkeit durch das zwar unüberschaubare, aber im Grunde doch begrenzte Angebot im Verkäufermarkt sogar sehr merklich beeinträchtigt: Es gibt immer das Gleiche in unendlich wechselnder Gestalt. Ferner ist die Politik nicht in der Lage, die bevormundenden und damit sublim freiheitsberaubenden sozialen Medien mit ihren aus Algorithmen konstruierten „personalisierten“ Vorschlägen zu zügeln.

Alternativen, erst Recht nicht solche, die nichts mit Konsumieren zu tun haben, können nicht erwogen werden. Man könnte die Menschen ja vielleicht sogar einmal anregen, darüber nachzudenken, dass es in vielen Bereichen und Lebenssituationen ein „Genug“ gibt, und dass man mit geringerem Konsum in manchen Bereichen mehr Lebensqualität gewinnen kann. Aber das will anscheinend niemand ins Programm schreiben. Keiner will ja beschuldigt werden, an das böse V-Wort („Verzicht“) zu denken.

Thema werden muss die Sicherung der Lebensqualität, wie sie beeinträchtigt wird durch die Ausdünnung und Zerstörung der Infrastruktur von Verkehr, Gesundheit, Bildung und Kultur. „Gerade in den ländlichen Räumen gilt es, die Daseinsvorsorge zu stärken“, heißt es in dem Sondierungspapier – da muss viel geschehen, und zwar in enger Zusammenarbeit mit den Menschen in den Regionen.

Es geht auch um die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft durch die Sicherung eines auskömmlichen Lebens für alle, ebenso durch Verringerung der Unterschiede von Arm und Reich und durch mehr gemeinsame Bildung.

Ähnlich interessant wäre es, den von vielen empfundenen Stress in der Arbeitswelt durch mehr Freizeit und Umverteilung der Arbeit zu verringern. Das ist prinzipiell möglich, weil geringe Wohlstandseinbußen durch Gewinne an Lebensqualität aufgewogen werden können.

Es wird vermutlich dank der vielen geplanten und notwendigen Verbesserungen in Bildung, Verkehr, Pflege und öffentlicher Grundausstattung zu Personalengpässen kommen – teilweise sind sie schon jetzt erkennbar. Ihnen wird man begegnen müssen mit Hilfe von Ausbildungsoffensiven auch für Flüchtlinge und mit einer durch Einwanderungsgesetze geregelten Zuwanderung.

Vielleicht wird man nicht nur über bessere Verkehrskonzepte und den Ausbau von Verkehrswegen nachdenken wollen, sondern auch über Möglichkeiten zur systematischen Vermeidung oder Verminderung von Verkehr. Für den Personenverkehr ist „Home Office“ schon ein guter Schritt. Beim Güterverkehr für Waren aller Art muss die Bevorzugung regionaler Produktion eine geförderte Selbstverständlichkeit werden. Verteuerung des Verkehrs kann lenkend wirken. Wieso muss man mit dem Auto in der Stadt dank „Parkraumbewirtschaftung“ immer zahlen, aber für die LKW sind die mit viel Geld geschaffenen Parkplätze an den Autobahnen kostenfrei als rollende Lager für die Unternehmen nutzbar? Da sind Gebühren überfällig.

Es gibt in dem Orientierungspapier schöne Versprechen: „Mit einer neuen Wohngemeinnützigkeit bringen wir eine neue Dynamik in den Bau bezahlbaren Wohnraums.“ Man will „bezahlbaren Wohnraum“ gewinnen. Vielleicht sollte man dafür auch einmal Beschlagnahme von nicht oder falsch genutztem Wohnraum oder überteuert vermietetem Wohnraum in Erwägung ziehen. Das wäre billiger als Enteignung, ist aber durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums genauso gedeckt wie der Zwang zur Sicherung von verfallenden Gebäuden.

Man sollte nicht nur StartUps und innovative Geschäftsmodelle fördern, mit denen immer mehr Bereiche „kommodifiziert“, in die marktwirtschaftliche Verwertung zwecks Gewinnerzielung einbezogen werden können. Der öffentlich zugängliche Raum für Alle, z. B. ein Landschaftsjuwel wie die Loreley, darf nicht kommerzialisiert werden. Initiativen, die sich dagegen wehren, verdienen unterstützt zu werden.

Versprochen wird, demokratische Formen wirtschaftlicher Tätigkeit wie Genossenschaften, Sozialunternehmen oder Gesellschaften mit gebundenem Vermögen zu fördern. Interessant sind da Sozialgenossenschaften nach italienischem Vorbild: In Art. 45 der italienischen Verfassung sind Genossenschaften mit „sozialen Aufgaben“ ausdrücklich erwähnt. Die Spezialform der Sozialgenossenschaften existiert seit 1972, und sie wird seit 1991 mit einem Sondergesetz (Nr. 381) offiziell anerkannt (s. Kiesswetter, Oscar: Genossenschaften made in Italy; oscar.kiesswetter@rolmail.net). Heute sind sie „unverzichtbare Leistungsträger im Sozial- und Gesundheitsbereich und von der Arbeitseingliederung benachteiligter Personen gar nicht mehr wegzudenken“ (Kiesswetter: Sozialgenossenschaften 2.0). In Südtirol sind sie insbesondere auch für die „soziale Landwirtschaft“ wichtig.

Für eine Region wie den Mittelrhein mit seinen ausgeprägten Formen des Bürgerschaftlichen Engagements (man denke nur an Nachbarschaften und „Brunnengemeinschaften“) sind diese Sozialgenossenschaften besonders interessant. Sie liefern einen „rechtlichen und organisatorischen Rahmen … für das direkte Engagement all jener Personen, die sich für die Befriedigung von weit verbreiteten Allgemeinbedürfnissen einsetzen“, zwar „mit unterschiedlichen ideologischen und religiösen Mustern, jedoch mit einer gemeinsamen solidarischen Grundeinstellung und einem konkreten organisierten Einsatz zu Gunsten der Allgemeinheit.“ (Kiesswetter) Man sollte prüfen, ob das für Deutschland interessant ist. Hier gibt es inzwischen im „dritten Sektor“, dem nichtgewerblichen gemeinnützigen Arbeitsmarkt, zahlreiche ähnliche „Sozialgenossenschaften“, freilich nicht so ausgeprägt wie in Italien.

Jürgen Habermas hat mit einer komplizierten Formulierung 1980 der „unvollendeten Moderne“ ins Stammbuch geschrieben: „Eine differenzierte Rückkoppelung der modernen Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen, durch bloßen Traditionalismus aber verarmten Alltagspraxis wird freilich nur gelingen, wenn auch die gesellschaftliche Modernisierung in andere nichtkapitalistische Bahnen gelenkt werden kann, wenn die Lebenswelt aus sich Institutionen entwickeln kann, die die systematische Eigendynamik des wirtschaftlichen und administrativen Handlungssystems begrenzt.“ (51)

Das muss man sich erst übersetzen: Die Gegenwart muss, wie jede „Moderne“ und jede Neuerung, immer wieder zurückgreifen auf „vormoderne“ Bestände von Standards, Werten, und Gewohnheiten: Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, wechselseitige Anerkennung und Vieles mehr sind in der „Vormoderne“ entwickelte Werte und gehören zu den „überlebenssichernden Praktiken früherer Lebenswelten“ (Habermas ebd.), die nicht nur erstarrte Tradition, sondern in vieler Hinsicht für die Weiterexistenz auch der veränderten Lebenswelt verantwortlich sind. Sie dürfen nicht den Prinzipien des Marktes unterworfen werden, also nicht „käuflich“ sein (so wie etwa Gerichtsentscheidungen nicht käuflich sein dürfen). Daher muss „gesellschaftliche Modernisierung in andere nichtkapitalistische Bahnen gelenkt werden.“ (Habermas ebd.) Wenn Wachstum und materielle Interessen privater Akteure im Vordergrund stehen wie in der ungezügelten Marktwirtschaft, gehen diese Wertorientierungen verloren. Freiherr vom Stein ging zu Beginn des 19. Jahrhunderts davon aus, dass die Bürger, die nach den von ihm angestoßenen Reformen von feudalen Zwängen befreit wurden, in ihrer neuen Freiheit nicht nur aus Eigennutz handeln, sondern immer auch dem Gemeinnutzen und Gemeinwohl sich verpflichtet fühlen. Dieses Prinzip wurde in das Grundgesetz aufgenommen: Eigentum verpflichtet und soll auch dem Gemeinwohl dienen. Das wird zu wenig berücksichtigt.

Vielleicht schlägt mit der neuen Koalition und der „Modernisierung der Moderne“ jetzt die Stunde der Zivilgesellschaft, in der solche „nichtkapitalistische Bahnen“ eröffnet werden müssen (und können). Habermas hofft, dass „die Lebenswelt aus sich Institutionen entwickeln kann, die die systematische Eigendynamik des wirtschaftlichen und administrativen Handlungssystems begrenzt“. Das können die erwähnten Sozial- und andere Genossenschaften sein, aber auch die tausend kleinen Schritte der Selbstorganisation im Bürgerschaftlichen Engagement mit Gemeinwohl-, Geselligkeits- und Interessenorientierung.

Es gibt schöne weitere Versprechen in dem Orientierungspapier: „Der Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wollen wir entgegenwirken und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern.“

„Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Der Konjunktur wollen wir einen Schub durch Superabschreibungen geben für Investitionen.“ Mit welchen Tricks das geht, wird sich zeigen. Man muss auf jeden Fall aufpassen: „Wir wollen zusätzliche Haushaltsspielräume dadurch gewinnen, dass wir den Haushalt auf überflüssige, unwirksame und umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben überprüfen.“ Das ist lobenswert, aber Vorsicht: Da kann es an Substanz von Infrastruktur und Sozialem gehen.

Statt Rüstungs- und Sicherheitspolitik wird eine Friedens- und Entspannungspolitik mit dem Schwerpunkt auf internationaler Konfliktmoderationspolitik versprochen. (Schweden war unter Olaf Palme vorbildlich; ein großes und starkes Land wie Deutschland kann noch mehr bewirken) Vielleicht muss man die Rüstungsindustrie neu zur Konversion anleiten statt auf sie als gewinnbringende Exportindustrie zu setzen.

Eine „Stärkung der Vereinten Nationen“ wird versprochen. „Wir wollen den regelbasierten Freihandel auf Grundlage von fairen sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Standards stärken.“ Denkt man auch einmal an globale sozialkulturelle Zusammenhänge? Der Wohlstand in reichen Ländern wie Deutschland ist in der „imperialen Lebensweise“ deutlicher Pull-Faktor, mit dem Migranten nach Europa gelockt werden und der für den Abfluss von Reichtum aus den armen Ländern nach Norden sorgt. Welche Rolle spielt dabei die Wünsche weckende Produktion von Luxusautos und SUVs?

Mit diesen Luxusautos hängt übrigens einer der Vorteile dieser Koalition zusammen, erinnert meine Frau. Eine Ampelkoalition kann keine Verbotsregierung sein. Das wird einer Regierung, an der die FDP beteiligt ist, keiner vorwerfen können. Vor „Verbotsparteien“ brauchen auch diejenigen, die sich von niemandem vorschreiben lassen wollen, was sie tun und lassen sollen und was für ein Auto sie sich leisten dürfen, erst mal nicht zu fürchten. Sie lassen sich zwar von der Strassenverkehrsordnung vieles vorschreiben, auch beachten sie, welche Reifen und Sicherheitsausstattungen ihr Auto haben muss, und sie legen Wert darauf, dass die freien Straßen für freie Bürger die notwendigen Sicherheitsstandards haben, sie lassen sich vorschreiben, welche Rauchmelder sie in ihrem Haus haben müssen. Sie nehmen in Kauf, dass Nahrungsmittelstandards mit Verboten geregelt werden, und manches mehr, Aber anderes brauchen sie jetzt nicht mehr zu befürchten: Die FDP ist ja mit dabei.

So sind diese Kritiker erst mal eingebunden. Dass man verbieten kann, dass Eltern ihre Kinder mit dem SUV direkt vor den Eingang des Kindergartens oder der Schule bringen, kann man ja noch einsehen. Wenn man später auch einmal mehr Parkgebühren zahlen muss für den ja nicht verbotenen, aber viel Platz wegnehmenden SUV, ist das vielleicht auch noch zu dulden, bleibt man doch dann auch besser unter Seinesgleichen. Zugangsbeschränkungen für enge Dorf- oder Altstadtstraßen in Kauf zu nehmen, ist man nicht gern bereit – soll man doch endlich trotz Sparprogrammen Umgehungsstraßen bauen oder die Fußgängerwege verkleinern.

Tempo 130 ist kein Thema mehr. Da können Tempofreunde, die auf den wenigen Autobahnstrecken ohne gebundenen Verkehr mehr als 130 km/h fahren wollen, schon mal zufrieden sein. (Sie sind es übrigens, die auf dreispurigen Autobahnen bei viel Verkehr die entspannte Nutzung der dritten Spur durch Drängeln unmöglich machen und so immer neue Staus produzieren). So wird es dank der neuen Koalition keinen Bürgerkrieg zwischen Autofans und Lasten-Fahrrad-Fans geben.

© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de 4.11.2021

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